Nur kein Schöngesang

Winterreise

Eine Schubertsche "Winterreise" darf nicht zum kulinarischen Ereignis werden. Es gilt, Unbehaustheit zu offenbaren. Die Herausforderung für den Interpreten: grundmenschliche Erfahrungen des Abgelehnt-Werdens und der Verzweiflung erfahrbar zu machen.

"Gute Nacht" - Tabea Zimmermann, Matthias Görne

Jeder Sänger und jede Sängerin, die sich gemeinsam mit dem Klavierbegleiter die Aufgabe stellt, Schuberts "Winterreise" zu interpretieren, hat eine die Lebensbasis erschütternde Wanderschaft zu rekonstruieren, die die Zuhörerschaft zu Mitbetroffenen machen soll.

Eine Winterreise darf nicht zum kulinarischen Ereignis werden, das das Auditorium lediglich in Schöngesang einlullt. Auch wenn die 24 Lieder gefallen - und sie tun es überall, wo sie aufgeführt werden, kein Liederzyklus garantiert mehr ausverkaufte Häuser als die Winterreise -, sie müssen ihre gewollte Schauerlichkeit bewahren, müssen uns von Schuberts Unbehaustsein erzählen und gleichzeitig unsere eigene Unbehaustheit offenbaren. Eine Bratschistin beginnt die unbequeme Reise, nachzuhören im Audio-File: Tabea Zimmermann. Am Klavier: Hartmut Höll.

Stark und unheilvoll

Von allem Anfang an sind wir in Bewegung. Hämmernde Akkorde in d-Moll treiben die Musik voran, wie eine Art Schicksalsmotiv, unspektakulär an der Oberfläche aber stark und unheilvoll im Ganzen. Zurückgehaltene Wut, Enttäuschung ist eingekapselt in den sechs Takten Vorspiel und den Akzenten auf dem vierten Achtel. Die Tempovorschrift lautet: "mäßig, in gehender Bewegung". Der Sänger sollte sich vor zu langsamem Tempo hüten, er muss in Viertel-, nicht in Achtelnoten denken.

Man kann schon viel sozusagen "vergeigen" in diesem Eröffnungslied "Gute Nacht". "Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus." Sicher, das emotionale Gewicht, das der Sänger da im Gepäck hat, ist schon beträchtlich für den Wanderer, aber es darf ihn noch nicht niederdrücken und auch der Pianist darf nicht hämmern, muss wissen, dass die Reise eine lange wird.

Berührende Wendung nach Dur

Wahrscheinlich ist "Gute Nacht" eines der größten Beispiele eines Strophenlieds bei Schubert. Am berührendsten ist die Wendung nach Dur in der vierten und letzten Strophe.

Alle Zärtlichkeit der Welt und alle Vergebung sind eingefangen in: "... will dich im Traum nicht stören", im obigen Audio gesungen vom Bariton Matthias Görne, begleitet von Graham Johnson.

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Hör-Tipp
Ausgewählt, jeden Mittwoch, 10:05 Uhr

CD-Tipps
Franz Schubert, "2x Winterreise", Tabea Zimmermann, Mitsuko Shirai, Hartmut Höll, Capriccio, ASIN: B000001WOH

Franz Schubert, "Winterreise", Matthias Goerne, Graham Johnson, Hyperion, CDJ33030

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