Das Bordellviertel von Tangail
Hinter den Vorhängen
Der aus Graz stammende Regisseur Michael Glawogger gehört mit seinen Spiel- und Dokumentarfilmen längst zu den Aushängeschildern des österreichischen Films. Für oe1.ORF.at hat er eine Reportage über ein Bordellviertel in Tangail, Bangladesh, gestaltet.
8. April 2017, 21:58
Tangail unterscheidet sich kaum von anderen Städten in Bangladesch. Klingelnde Rikschas, lebendige Betriebsamkeit, und über allem erhebt sich mehrmals täglich die beruhigend drohende Stimme des Muezzins zur Lobpreisung Allahs.
Es ist Ramadan 2006
In vierundzwanzig Stunden wird der Vollmond hoch am Nachthimmel stehen. Die Straßen rund um das Kandapotte Potitalow, das Bordell in der Kandapotte Straße, sehen nicht anders aus als sonst wo in Tangail. Unasphaltierte Gassen mit vielen kleinen Läden rechts und links, in denen Lebensmittel, Tee, Pan und Haushaltswaren angeboten. Männer säumen redend, Zähne putzend oder schlafend den Straßenrand.
Einziger Unterschied: einige Hauseingänge sind mit Vorhängen versehen. Vorhänge gibt es in Bangladesch nur dann, wenn man etwas nicht sehen, vor einem bestimmten Anblick geschützt werden soll.
Eintritt in eine andere Welt
Die Vorhänge in der Kandapotte Straße öffnen sich manchmal einen Spalt, und schön geschminkte Mädchen und Frauen schauen neugierig, auffordernd oder auch gelangweilt heraus. Oft heben sie den Stoff auch nur ein wenig, um ihre Anwesenheit zu signalisieren. Ihre Saris sind bunt und auffällig drapiert, ihre Gesichter oft durchsichtig weiß geschminkt, ihre Lider mit kräftigen Farben hervorgehoben, und manchmal zieren handgemalte Muster ihre Stirn oder ein billig funkelnder Edelstein ihre Nasenflügel.
Hat man die Schwelle erst einmal überschritten und ist hinter einen Vorhang getreten, dann betritt man eine andere Welt, ein Labyrinth von eigenwillig düsterer Schönheit. Hier reiht sich Gasse an Gasse, Hof an Hof, Hütte an Hütte, Wohnraum an Wohnraum.
Hier leben nicht nur die Prostituierten, die auf Bangla schnörkellos sexworker genannt werden, sondern auch ihre Familien, bestehend aus der Mutter, etwaigen Schwestern, Brüdern und den Großmüttern. Außer den Verwandten und etwaigen Zuhältern leben hier nur wenige Männer, denn die Väter der Kinder sind die Freier, und die lassen sich nur solange hier blicken, bis sie Väter geworden sind. Ist eine Frau einmal zu alt geworden für die Arbeit als Prostituierte, wird sie zur Zuhälterin der eigenen Kinder.
Das tägliche Leben und die Arbeit sind kaum getrennt, die Wohn- und Arbeitsräume sind die gleichen. Die Einrichtung besteht aus einem Bett, einem Regal und einem Ventilator, manchmal gibt es einen Fernseher oder ein Radio. Meistens sind die Wände mit indischen Filmpostern oder farbenprächtigen Hindugottheiten gepflastert. Obwohl alle hier muslimischen Glaubens sind, werden diese Gottheiten ihrer Buntheit wegen geliebt. In anderen Räumen steht auch nur ein einfaches Bett. Gekocht, gegessen, zusammen gesessen und sich schön gemacht wird in den Innenhöfen. Hier spielt sich der Alltag ab.
Ein Ghetto der Lust
Die meisten Mädchen, die hier arbeiten, werden entweder hier geboren, flüchten hierher oder wurden von ihren Verwandten im Alter von acht bis zehn Jahren verkauft. Das macht den Ort zu einer Art Ghetto - ein Ghetto der Lust. Das Ghetto hat unsichtbare Grenzen, die Vorhänge sind deren Balken.
Auf den zwei- bis dreitausend Quadratmetern von Kandapotte Potitalow leben tausendfünfhundert Prostituierte mit ihren Angehörigen. Sie kennen nichts anderes als diesen Ort und haben hier ihre eigene kleine Infrastruktur aus Lebensmittelhändlern, Teestuben, Friseuren, Ärzten und einer Organisation, die sie nach außen hin vertritt. Sie selbst kennen die Welt draußen nur durch die Männer, die hereinkommen; sie kennen Rikscha- und Lastwagenfahrer, Geschäftsleute, Händler, Polizisten und Priester. Und Gläubige.
Die Situation eskaliert
Im Ramadan wird in der Moschee der Stadt ein Rat abgehalten und die Situation als untragbar erachtet. Es soll eine große Demonstration geben. Tausende Fundamentalisten kündigen an, die Siedlung im Namen Allahs räumen zu lassen, wenn nötig mit Gewalt.
Als schließlich nach innen dringt, was geschehen soll, ist das Entsetzen groß. Es gleicht einer griechischen Tragödie. Hier, wo ungewöhnliche, aber funktionierende Familienstrukturen aufgebaut wurden und alte Frauen auch ihre letzten Tage verleben wollen und könnten, hier soll im Namen Gottes aufgeräumt werden? Hier soll im Namen Gottes und des Geldes die Siedlung einem Supermarkt weichen.
Die Frauen weinen, schreien und wenden sich in verständnisloser Wut gegen einen noch unsichtbaren Feind. Die Organisation versucht, das ihre zu tun - eine emotionale Pressekonferenz wird abgehalten, eine Versammlung organisiert.
Die Männer flüchten
An diesem Abend sieht man aber auch die ersten flüchten. Mitten durch die herausgeputzten Frauen werden die ersten Regale, Töpfe, Wäschebündel, Küchengeräte und Bilder abtransportiert. Die schmalen Gassen sind noch voller als sonst. Die Stimmung erinnert an eine Stadt in vergangener Zeit, vor deren Toren die feindlichen Truppen stehen - wären da nicht Radios, Fernseher und Mobiltelefone unter den Habseligkeiten, die einen an die Gegenwart erinnern. Aber es sind nur die angehörigen Männer, die da flüchten - die Frauen bleiben und halten die Stellung. Der Vierundzwanzig-Stunden-Betrieb im Kandapotte Potitalow ist gleichzeitig in vollem Gang.
Die Polizei marschiert schließlich auf und riegelt den Häuserblock ab. So ruhig war es hier unter Tags schon lange nicht mehr. Keine Rikscha, kein Lastwagen, kein CDG-Babytaxi, kein Mensch. Die Rollläden werden zugezogen, als die schwer bewaffneten und mit kugelsicheren Westen und Beinschützern bekleideten Männer vor den Vorhängen Aufstellung nehmen. Und auch hinter den Vorhängen greift man zur Waffe.
Die Fundamentalisten rennen inzwischen zu Tausenden, aufgebracht schreiend und Slogans skandierend, durch die Strassen der Stadt. Ein Mann auf einer mit einem Lautsprecher bestückten Rikscha fährt mitten drinnen und heizt die Stimmung an.
Die größte Strafe Gottes für den Menschen ist die Religion. Und im Haus Gottes, der Moschee, versuchen einige Politiker und Journalisten, die Verantwortlichen der Muslime zur Vernunft zu bewegen. Es wird diskutiert, geschrieen, argumentiert, skandiert und gebetet. Draußen tobt noch immer die Demonstration. Erst als die ersten Geschlagenen und Verwundeten von draußen zurückkehren, wogt wieder eine Welle der Entrüstung durch die Gassen. Klagelaute mischen sich mit Kampfgeschrei. Dazwischen läuten die Mobiltelefone.
Es geht weiter
Aus Dhaka sind die Bordelle schon vor Jahren unter dem Druck der Fundamentalisten ausgesiedelt worden, in anderen Städten steht ähnliches bevor; in Tangail wird es an diesem Tag noch verschoben. Am Abend kehrt Ruhe ein, und nur eine Stunde danach herrscht ganz normaler, ja sogar besonders starker Betrieb. Schließlich hat man auf die Dienste der Mädchen und Frauen eine Nacht und einen Tag verzichten müssen.
So scheinbar verzichtbar ist das, was hinter den Vorhängen passiert - so verzichtbar, dass ein Mann dafür seinen ganzen Lohn einsetzt, hunderte Kilometer reist, seinen Gott vergisst, sich einsperren lässt und sein Leben riskiert - es zieht den Freier hinter die Vorhänge, wie es die Prostituierte ins normale Leben zieht.
Der unsichtbare Vorhang ist dabei unüberwindbar.