Michael Vesely über verlässliche Quellen im Internet
Digitales Alzheimer
Zu Beginn der Koalitionsverhandlungen stand erstmalig das Internet im Mittelpunkt. Bundeskanzler Schüssel verlangte von der SPÖ, die ungeheuerlichen Dinge von ihrer Homepage zu entfernen, die sich dort im Laufe des Wahlkampfs angesammelt hatten.
8. April 2017, 21:58
Am Beginn der Koalitionsverhandlungen nach der Nationalratswahl stand erstmals das Internet im Mittelpunkt des Geschehens. Bundeskanzler Schüssel verlangte bekanntlich als Einstand von der SPÖ, die ungeheuerlichen Dinge" von ihrer Homepage zu entfernen, die sich dort im Laufe des Wahlkampfs angesammelt hatten.
Die ÖVP ihrerseits hatte einige ihrer Websites bereits vorsorglich weitgehend gesäubert. In bester Absicht wurden also flugs Seiten entfernt, Texte entschärft und Bilder gelöscht. Ähnlich wie bei David Copperfield verschwanden diese Informationen unter den beobachtenden Augen vieler und gingen dabei unwiderruflich verloren. Das Internet hat nämlich kein verlässliches Gedächtnis. Es taugt nicht zum verbindlichen Archivieren.
Der Segen der geringen Produktionskosten und des massentauglichen Entstehungs- und Veränderungsprozesses ist gleichzeitig der Fluch der Historiker. Das Netz ist das erste Medium, dass sich nicht mehr als Quelle für die fundierte geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung eignen wird. Je stärker nämlich der politische Diskurs ins Netz wandert, desto weniger andere, verlässlichere Quellen werden vorhanden bleiben.
Die Folge dieser Entwicklung ist einer der Treppenwitze des Internet: Geschichte wird für zukünftige Generationen nicht mehr exakt rekonstruierbar sein - trotz Wikipedia, Google und Co.
Archive - bislang die Basis jeder geschichtswissenschaftlichen Arbeit - leiden zunehmend unter der oft nur mehr ephemen bzw. vorübergehenden elektronischen Fixierung bestimmter Positionen. Das Parteiprogramm als Wiki? Cool! Voller Pathos und Euphorie über das papierlose Büro, über "knowledge management, "semantic web und Web 2.0 laborieren wir unbemerkt unter digitalem Alzheimer.
Während die Web-Korrekturen im Zuge der aktuellen Koalitionsverhandlungen nur dazu dienten, die Befindlichkeiten der potenziellen Partner zu verbessern, kann das im worst-case zur kompletten Veränderung der Vergangenheit führen. Gelegenheit macht ja bekanntlich nicht unbedingt ehrlicher.
Schon das - noch in der guten alten prä-Web-2.0-Zeit angesiedelte - Ende der Ära Helmut Kohl zeigt, was mit ein bisschen gutem Willen in kurzer Zeit an Akten wegzuschaffen ist (Helmut Kohl und der Aktenschwund", in: Die Zeit 46, 8. XI. 2001). Was dessen Mitarbeiter dabei noch relativ aufwändig manuell bewältigen mussten, schaffen zukünftige Regierungen ungleich effektiver mit ein paar Mausklicks.
Bemerkenswert ist dabei, dass diese Entwicklung auch von Historikern kaum wahrgenommen und thematisiert wird. Die zunehmende Digitalisierung wichtiger Prozesse in öffentlicher Verwaltung, Politik, Verbänden und Wirtschaft wird derzeit lediglich als willkommene Arbeitserleichterung angesehen. In Anlehnung an Wittgenstein wird wohl bald nur mehr das existieren, was auch im Web zu finden ist.
Geschichtswissenschafter benötigen aber ausreichend Quellen, deren Authentizität und jederzeitige Verifizierbarkeit über sehr lange Zeiträume hinweg gegeben ist. Hier versagt das Internet grandios.
Michael Vesely ist Geschäftsführer von kommunalnet.at, dem Intranet der österreichischen Gemeinden, und Präsident des Future-Network.
Hör-Tipp
Matrix, Sonntag, 12. November 2006, 22:30 Uhr
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Links
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