41 Erzählungen
Mikado
"Mikado", die neue Sammlung von Erzählungen von Botho Strauß, sind 41 Texte auf 175 Seiten makellose Prosa. Texte, die zwischen Parabel, Legendenartigem, Mythenumdichtung, Schimpftirade und Kurzgeschichte hin- und herspielen.
8. April 2017, 21:58
Mikado - das sind 175 Seiten makellose Prosa. Dass es sich bei den 41 Texten von Botho Strauß um "Kalendergeschichten" handelt, was die einhellig euphorische Kritik mit Hinweis auf Johann Peter Hebel unisono behauptet, ist gleich vornweg zu bezweifeln. Wo fände sich in diesen, von einer halben bis zu zehn Seiten langen Texten, die zwischen Parabel, Legendenartigem, Mythenumdichtung, Schimpftirade und Kurzgeschichte hin und herspielen, etwas wie "Moral", eine erkennbare Jahreszeitenanordnung, ein wie auch immer geartetes Muster und Programm?
Zu einem Fabrikanten, dessen Gattin ihm während eines Messebesuches entführt worden war, kehrte nach Zahlung eines hohen Lösegeldes eine Frau zurück, die er nicht kannte und die ihm nicht entführt worden war.
Der Kleist imitierende Tonfall der Titel gebende Erzählung "Mikado" macht sofort klar: Hier handelt es sich um Botho Strauß in einem neuen, wenn auch nicht ganz unbekannten, edlen Kleid. So unübersehbar Strauß hier auch ein wenig altertümelnd mit dem Klang von "Volksdichtung" spielt, in diesen Geschichten (so viele wie ein Mikado Stäbe hat) wird vor allem eine Absicht des Autors recht deutlich: Es geht um Zeitgenossenschaft, darum, einen Querschnitt der deutschen Gegenwartswelt mit all ihren verschrobenen, depressiven, ein bisschen mysteriösen und nach Transzendenz hungernden, verzweifelten und liebessüchtigen Figuren zu liefern.
Gefährlich-unheimliche Leidenschaften
Strauß demonstriert sein Können an einer Reihe "bedeutender" Gefühlslagen: Da geht es etwa um Verrat und Seitensprung: In "Absicht" betrügt einer - "keinen Unbekannten, sondern seinen liebsten Kollegen", um sich als Betrogener wiederzufinden. Die Frau gesteht ihm letztendlich:
Ich habe es nur getan, damit du dich schämst vor deinem liebsten Kollegen. Ich will doch sehen, wie du meinem Mann nicht mehr in die Augen sehen kannst.
Straußens Versuchsanordnung für gefährlich-unheimliche Leidenschaften kann dabei - wie im Fall des "jungen Telfontechnikers und Züchters von Dalmatinern" - auch im denkbar banalsten Schluss enden. Als dieser einmal abends heimkommt, sieht er, dass seine Frau mit einem anderen Mann die Wohnung umstellt; er beschließt wenige Stunden später noch einmal zu kommen, und dann - hat sich tatsächlich nichts verändert: "Also" - heißt es abschließend - "ließ er die Sache auf sich beruhen". Ist das goethescher Verzicht oder Stephen King?
Surreale Figuren und kryptische Theorien
Da gibt es die bei Botho Strauß immer wieder auftauchenden surreale Figuren wie die "Mauerküsserin", die sich im Vorbeigehen einen Mann aus der Wand herausküsst, und eine Menge von philosophierende Tiraden über "den Fremden", vor dem "die Töchter" - wer auch immer diese sein mögen - gewarnt werden.
Gleichsam im Vorbeigehen fallen kryptische Theorien über die beiden zentralen "Aufenthaltsorte des Menschen" - die Wüste und die Höhle, sowie die dazu passenden Grundhaltungen - Warten und Suchen - ab.
Straußens zentrales Motiv ist bei all dem die Einbruchsstelle eines Jenseits in die Routine und Banalität des Alltags. Selbst um den Preis, mitunter recht manierlich und maniriert zu werden.
Das "eine" Thema
Bleibt noch das weite Land der Beziehungen und des Sex. So skurril wie Botho Strauß hat schon lange niemand mehr über "das eine Thema" geschrieben. Ein so genannter Geisterfänger wird eines Tages von seinen Kollegen zu Hilfe gerufen. Dabei trifft er auf Lilly.
Lilly steht im weißen Bademantel neben ihm, so vorgebeugt wegen ihrer Kurzsichtigkeit, dass das breite Revers links ein wenig einknickte und ihre nackte Brust freigab. (...) Es geschah fast wie nebenbei, dass der Mittler, der alles andere als ein Mann für Frauen war, ruhig wie ein Installateur, der ein undichtes Heizungsventil prüft, in den Ausschnitt ihres Morgenmantels griff, um einmal mit ihrer warme Brust seine Hand zu füllen.
Einen Busen mit einem Heizungsventil zu vergleichen, ohne sich dabei lächerlich zu machen, dazu gehört schon einiges an literarischem Selbstvertrauen. Botho Strauß besitzt es offenbar nicht nur, er kann es auch.
Fast ein Klassiker
Wollte man partout einen Einwand gegen "Mikado" vorbringen, so fällt die stilistische Uneinheitlichkeit der Erzählungen auf. Strauß kann tatsächlich schreiben wie ein Klassiker, flirrend, ein wenig possenhaft, meist aber in imposanten Höhen sich ergehend. Am besten gelingt Botho Strauß die Darstellung der immer wieder beklagten Dürftigkeit der Gegenwart, wenn es um ohnedies Banales geht. So zum Beispiel in der "Lücke" betitelten Erzählung über zwei leer gebliebene Plätze in einem Theater.
Die Lücke fällt nicht nur ins Auge, sie untergräbt auch das Behagen, reihenweise im Schulterschluss in einem Publikum zu sitzen und gleichgerichtet - miteinander - geradeaus auf die Bühne zu schauen. Denn ist es nicht dieses Behagen, um dessentwegen man überhaupt einen solchen Ort aufsucht? Sich wie nirgends sonst der Welt eingereiht zu wissen in einer vollzähligen Ordnung, unverzichtbar zu sein in einem Zuschauerraum, der bis auf den letzten Platz besetzt ist.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 5. November 2006, 18:15 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Botho Strauß, "Mikado", Carl Hanser Verlag, ISBN 3446208089