Kritische Indologie ist gefordert
Wie der Westen Indien konstruiert hat
Was unter Indien verstanden wird, im Westen, wie in Indien selbst, ist zum Großteil die Folge einer romantischen Wissenschaft, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Angesichts eines erstarkenden Nationalismus ist eine kritische Reflexion der Indologie gefordert.
8. April 2017, 21:58
Seit der Erstarkung des Hindunationalismus in den 1990er Jahren gibt es wieder erbitterte Kämpfe um die Definition von Indien, von indischer Kultur, Religion und Geschichte. Ist Indien das Land vieler - gleichberechtigter - Religionen und Kulturen? Oder ist es, wie die Hindunationalisten dies definieren, das Land der Hindus, in dem Angehörige anderer Religionen Gaststatus genießen? Vor diesem Hintergrund sind die Worte des an der Universität Bonn lehrenden Indologen Heinz-Werner Wessler zu verstehen, wenn er sagt: "Auch die Indienromantik ist nicht per definitionem gewaltfrei."
Die Indologie als philologische Wissenschaft entstand im 19. Jahrhundert zur Zeit des britischen Kolonialismus' und der deutschen Romantik.
Was damals als Indien bezeichnet wurde, ist in Wirklichkeit ganz Südasien. Dennoch beschäftigt(e) sich die Indologie fast ausschließlich mit den, in der alten Sprache Sanskrit verfassten, hinduistischen Schriften. Der indische Islam, der seit eintausend Jahren eine wichtige Rolle spielt, wurde und wird dagegen zumeist noch heute vernachlässigt.
Kritische Indologie gefordert
Auch wenn die Indologie nie die Sicht nationalkonservativer Hindus vertreten hat, lassen sich doch aus Äußerungen von Indologen Sätze herausgreifen "und in ein national-konservativ-hinduistisches Parteiprogramm einbauen", sagt Heinz-Werner Wessler. "Die westliche Indologie darf sich nicht auf den Standpunkt stellen: Damit haben wir nichts zu tun. Hier müssen wir zu einer kritischen Indologie kommen."
So wie die Orientalisten den Orient, haben die Indologen Indien mitkonstruiert. Schon die Tatsache, dass Hindus sich überhaupt als solche zu bezeichnen begannen und anfingen, von der Hindu-Religion im Singular zu sprechen, ist auf die Tätigkeit von Indologen und Kolonialherren zurückzuführen. Bevor diese ihre Meistererzählung von Indien schufen, gab es weder den Begriff des Hinduismus noch die Vorstellung einer einheitlichen hinduistischen Religion. Inzwischen sprechen viele westliche Wissenschafter von Hindu-Religionen nur mehr im Plural, da die einzelnen Hindu-Religionen sich voneinander mehr unterscheiden als Christentum, Judentum und Islam.
Immer mehr Indologie-Institute werden heute in Institute für Südasienwissenschaften umbenannt. Ein großes Südasieninstitut kann vielerorts aus sparpolitischen Gründen freilich nicht aufgebaut werden. Gerade aber die vielfältigen Begegnungen und Beeinflussungen der Hindureligionen und des indischen Islam können nur interdisziplinär erforscht werden.
Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstat, 29. August 2006, 19:05 Uhr
Download-Tipp
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Link
Universität Bonn - Institut für Orient- und Asienwissenschaften