Leben ohne Buchstaben

Nicht mehr lesen können

Der Verlust der Lesefähigkeit ist ein maximaler Verlust. Denn er bedeutet, dass viele Dinge, die vorher selbstverständlich sind, nicht mehr möglich sind: Das Lesen einer Zeitung, den richtigen Geldschein bei der Hand haben, Straßenkarten entziffern.

Was passiert, wenn man nicht mehr lesen kann?

Wenn die Augen versagen, braucht das Selbstverständliche plötzlich logistische Planung. Zeitung lesen, auf die Uhr schauen, sich auf Fahrplänen oder auf Straßenkarten zurechtfinden, beim Zahlen den richtigen Euroschein parat haben. Menschen, die nicht mehr lesen können, sind auf Andere angewiesen - und auf das Vertrauen, das sie diesen Helfenden entgegenbringen.

Wilhelmine Eppel wird im Seniorenwohnheim Neumargareten im 12. Wiener Bezirk nur Schwester Willie genannt. Die gelernte Altenpflegerin ist auch Buchhändlerin und führt die hauseigene Bibliothek. Orangefarbene Vorhänge, viele Pflanzen, auf den Tischen überall Getränke und Knabbergebäck - und in den Bücherwänden alle Klassiker für Leseratten.

Vorlese-Termine

Schwester Willie macht sich mit Leopoldine Baumgartner regelmäßige Termine zum Vorlesen aus. Die 82 Jahre alte Dame kommt mit einer Gehhilfe und dem Lift jeden Montagmorgen aus ihrem Appartement im obersten Stock in die Bibliothek ins Erdgeschoß. "Ich sehe nicht, weil mir ein Tumor die Augennerven abgedrückt hat", erzählt sie. "Ich kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht nähen. Sehen tu ich nicht, hören tu ich nicht, gehen kann ich nicht - aber den Verstand hab ich. Da muss ich Gott danken, dass er mir den lässt ..."

Nicht mehr lesen können würde bei jedem von uns alles Selbstverständliche in Frage stellen. Je mehr man auf die Sehkraft angewiesen war, desto größer ist diese Umstellung. Material, das früher vom menschlichen Geist optisch verarbeitet wurde, muss nun akustisch aufgenommen und genutzt werden. Und das fällt mit zunehmendem Alter immer schwerer.

Vorleserinnen engagiert

Leopoldine Wasser ist rüstige 86, quicklebendig und voll Humor. Sie zeigt, wie man alleine mit dem Defizit, nicht mehr lesen zu können, zurechtkommt. Sie lebt in einem Wiener Innenbezirk und verbringt den Sommer gerne in ihrem Gartenrefugium an der Donau bei Korneuburg.

Als junges Mädchen zur Emigration aus Österreich gezwungen, hat sie in vielen Ländern gelebt, darunter zwölf Jahre in Israel. Zu ihrem täglichen Lese- Vergnügen gehören viele Briefe von Freunden aus aller Welt. Leopoldine Wasser hat sich Vorleserinnen engagiert. Über den Verein Jung & Alt besuchen sie junge Studentinnen wie Isolde Arzt, die ihr heute die Post liest und aus Eva Menasses Familienroman "Vienna" vorliest.

Hörbücher

Isolde Arzt ist nur eine unter mehreren, die der heiteren alten Dame die Augen leihen. Leopoldine Wasser genießt die Lesestunden, weil sie gerne junge Menschen in Ihrer Nähe hat und ihre eigenen Enkelkinder in Israel leben. An den Tagen ohne Studenten-Besuch helfen ihr zahlreiche Hörbücher.

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Hör-Tipp
Moment, Donnerstag, 3. August 2006, 17:09 Uhr

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Verein Jung & Alt