Ein "Provisorium", das seine Gründer überlebte

Die Staatshymne als seltsamer Fall

Hätten Polen und Serbien-Montenegro gegeneinander gespielt, was in dieser Fußball-Weltmeisterschaft jetzt ausgeschlossen ist, würde das Publikum beim Spielen der Hymnen in große Verwirrung geraten - beide Staaten haben nämlich die gleiche Hymne.

Wenn man weiß, dass die Hymnen, neben Fahnen und Wappen, die am stärksten symbolisch wirksamen Identifikationsmerkmale eines Staates sind, überrascht einen die Tatsache umso mehr, dass zwei verschiedene Staaten die gleiche Staatshymne haben - nämlich Polen und Serbien-Montenegro.

Natürlich unterscheiden sich die Texte der beiden Hymnen voneinander, aber die Musik, der eigentliche emotionale Träger dieses Symbols, ist die gleiche.

Hauptsache "gute Patrioten"

Im überall herrschenden Lärm des Fußballs gibt es vor jedem Länder-Match einige feierliche Minuten, jene des Spielens der Hymnen. Die TV-Kameras gleiten langsam über den Gesichtsausdruck der jeweiligen Spieler und mischen sich mit den Fernsehbildern des in diesem Fall nicht heulenden, sondern singenden Publikums.

Die Blicke der Spieler sind irgendwo ins Ferne gerichtet und man hat häufig das Gefühl, dass sie die Worte der Hymne nicht ganz beherrschen. Aber in diesen feierlichen Momenten ist das sowieso nicht so wichtig, Hauptsache ist, dass sie sich als "gute Patrioten" präsentieren. Und gleich nach diesen "edlen" Minuten ist die Hölle los. Noch bevor die letzten Takte verklungen sind, beginnt ein ungeheuerliches Geschrei aus tausenden Kehlen, das ein Stadion in einen Schlund verwandelt.

Ein Spiegel der Mentalitäten

Für die nicht betroffenen Zuseher, dass heißt für jene, die nicht aus den gerade spielenden Staaten kommen, wirkt dieses Ritual merkwürdig. Sie wundern sich darüber, was die Singenden so aufregend in diesen - oft musikalisch nicht gerade hochwertigen Werken - finden. Und der Außenstehende bemerkt auch, dass die verschiedenen Hymnen auch unterschiedliche Choreografien des Hörens und Teilnehmens haben:

Einige halten die Rechte Hand am Herzen, bei den Mexikanern z. B. wird die Hand nicht wie beim Militärgruß an die Stirn gesetzt, sondern in die Höhe des Herzens gehoben. Die Meisten aber stehen brav da und singen. Die Melodien spiegeln die verschiedenen Lebenszugänge jeweiligen Länder wider. Im Unterschied zu den etwas behäbigen und seriösen Hymnen der Nordeuropäer, sind die Hymnen der Südvölker und Lateinamerikaner fröhlicher und mit einem "Revue" ähnlichen Hauch geschmückt.

21. Juni 2006, ein historisches Datum

Am vergangenen Mittwoch erklang während der Fußball-WM zum letzten Mal die Hymne eines nun nicht mehr existierenden Staates. Obwohl Jugoslawien schon vor seit längerer Zeit zersplittert wurde, spielte die Repräsentation, vom nachfolgenden Staat Serbien-Montenegro, der auch schon inzwischen ausgelöscht wurde, unter der ehemaligen Staatshymne Jugoslawiens, ihr letztes gemeinsames Spiel.

Aber wie ist es möglich, dass heutzutage eine Hymne gleichzeitig für zwei Staaten ihren "symbolischen Dienst" erfüllt - und einst noch die verschiedenen Staatsformen des sozialistischen Jugoslawien und dann des neu erstandenen national geprägten Serbien-Montenegro repräsentieren kann?

"Mazurek D¹browskiego", das Lied der Slawen

Die polnische Hymne "Mazurek D¹browskiego" (Dabrowskis Mazurka) mit dem Text von Jozef Wybiski ist 1797 entstanden. Und sie wurde gleich von allen slawischen Völkern als ihr gemeinsames Lied gesungen.

Der slowakische Dichter Samuel Tomasik hat aus dieser Vorlage das Lied "Hej Slovane" (Hej, Slawen) verfasst. Dieses bei allen Slawen sehr populäre Lied wurde 1945 zur "provisorischen" Hymne des Sozialistischen Jugoslawien unter Marschall Tito gewählt. "Provisorisch" deswegen, weil man sich nicht einigen konnte, welches Werk als Hymne für alle jugoslawischen Staaten seine Funktion am Besten erfüllen würde.

Ein Provisorium von langer Dauer

Dieses Lied, das die Gemeinsamkeiten der slawischen Völker pries, würde auch die unterschiedlichen Völker Jugoslawiens zusammenhalten, dachte man damals. Man debattierte zwar ständig über eine "autochthone" jugoslawische Hymne und es wurden sogar Wettbewerbe ausgeschrieben, aber bis zu seinem Ende blieb Jugoslawien ohne eigene Hymne.

Und das "Provisorium" überlebte das einstige Jugoslawien und mit einigen Textanpassungen existierte es bis Mittwochabend als Hymne Serbien-Montenegros.

Die "verschwiegene" Hymne

Angeblich fiel die Botschaft zur slawischen Vereinigung auf unreifen Boden. Und mit dieser Erkenntnis konnte man nicht mehr am Text "basteln" und das Lied, das zur Gemeinsamkeit aufruft, lässt sich nicht mehr für immer kleiner Staatseinheiten, die in den "slawischen Ländern" entstanden sind, als Hymne verwenden.

Das könnte auch ein Grund dafür sein, warum die serbischen und montenegrinischen Fußballspieler und das Publikum ihre frühere Hymne nicht gesungen haben. Sie haben sie auch nicht gemurmelt. Sie schwiegen - wissend, dass ihr Staat nicht mehr existiert, und dass sie künftig bei einer Fußball-Meisterschaft als getrennte Länder antreten werden. Bis dahin werden sie sicher neue Hymnen gefunden haben - und "Hej, Slawen" kann dann nur für Polen gesungen werden.

Mehr zu den teilnehmenden Nationen der Fußball-WM in oe1.ORF.at
Polen
Serbien und Montenegro

Link
Wikipedia - Hej Slaveni