Wie Präludien und Etüden zu Popsongs werden
Chopin, Jobim, Gainsbourg
Chopin mag sich im Grabe umdrehen oder auch nicht. Jedenfalls sind einige seiner unsterblichen Klaviermelodien geklaut und in den Händen von Antônio Carlos Jobim, Serge Gainsbourg und anderen zu ebenso unsterblichen Popsongs verwandelt worden.
8. April 2017, 21:58
Gerry Mulligan - Prélude in e-Minor (Chopin)
Wenn Popmusiker die Lieder anderer Popmusikers neu einspielen, dann nennt man das "Coverversion", und niemand findet was dabei. Wenn klassische Musiker die Musik klassischer Komponisten spielen, dann nennt man das "Interpretation", und niemand findet was dabei. Wenn aber Popmusiker die Musik von klassischen Komponisten zu Popsongs verarbeiten, dann ist das so eine Sache...
Da wäre zum Beispiel der berühmte Kanon von Johann Pachelbel aus dem Jahr 1677. Nicht nur, dass sich im Kanon selbst die ewige Wiederkehr des ewig Gleichen in den acht gefälligen Akkorden D-A-h-fis / G-D-G-A manifestiert, er wurde in seiner Funktion als angewandte Harmonielehre auch die Grundlage unzähliger Popsongs: von Streets of London (Ralph McTell), über Rain and Tears (Aphrodites Child) und Go West (Village People, Pet Shop Boys) bis hin zu diversen Hip Hop Nummern.
Fréderic Chopin - Klauer und Beklauter
Es gibt aber auch subtilere Formen musikalischen Diebstahls. Zu diesen zählen einige Songs, bei denen Frédéric Chopin Pate gestanden hat. Doch wie so oft beginnt alles zunächst einmal bei Johann Sebastian Bach: Er schrieb im Jahr 1730 die Chromatische Fantasie in d-Moll (BWV 903) und konstruierte in deren Coda eine so genannte Quintfallsequenz. Mit Hilfe von verminderten Septakkorden durchläuft die Coda stetig abfallend die Töne der Chromatik. Dieses harmonische Stilmittel war in der Barockzeit nichts Ungewöhnliches. In Bachs Chromatischer Fantasie offenbart es sich jedoch in allerhöchster Strenge und musikalischer Reinheit.
Eine ganz ähnliche Idee findet sich knapp 110 Jahre später in Frédéric Chopins Prélude in e-Moll Opus 28 No. 4 wieder. Auch Chopin lässt mit Hilfe von verminderten Septakkorden die Begleitung seines Präludiums chromatisch abfallen. Darüber legt er jedoch im Gegensatz zu Bach eine zarte und einfache Melodie, die der Chromatik nicht folgt. Der US-amerikanische Musikwissenschaftler Norman Carey vertritt die Ansicht, dass die harmonische Ähnlichkeit der beiden Stücke zuviel des Zufalls wäre. Seiner Meinung nach hat Chopin eine Anleihe bei Bach genommen.
Antônio Carlos Jobim
Brasilien, Ende der 50er-Jahre: Antônio Carlos Jobim ist der Komponist, Vinícius de Moraes der Poet und Joao Gilberto der Interpret. Gemeinsam erfinden sie eine neue musikalische Bewegung, die Bossa Nova, und Jobim schreibt 1961 mit dem Song Insensatez einen ihrer Klassiker.
Bis heute ist das Stück ein Standard im Bereich des Latin Jazz geblieben. Melodie und Akkorde lassen unweigerlich die Assoziation mit Chopins Prélude aufkommen... Und hier besteht tatsächlich kein Zweifel mehr: Jobim, der in seinen Jugendjahren eine klassische Klavierausbildung absolviert hatte, bediente sich großzügig bei seinem Vorbild mit dem verblüffend ähnlichen Namen.
Chopin als Bossa Nova
Jobim hat sich zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich zur Ähnlichkeit von Insensatez mit Chopins Präludium geäußert: Einmal meinte er, dass er seinem Vorbild damit Tribut zollen wollte, andere Male bezeichnete er die Übereinstimmung als ungewollt und zufällig.
Sein US-amerikanischer Musikerkollege Gerry Mulligan jedenfalls hat die Gemeinsamkeit der beiden Stücke auf die Spitze getrieben und sich den Spaß erlaubt, die Sache wieder umzudrehen: Er nahm Chopins Präludium im Original und arrangierte es als Bossa Nova. Seither werden auch manche Coverversionen von Insensatez selbst mit Chopins Original-Präludium eingeleitet, zum Beispiel die von Karrin Allyson oder L.A. Four.
Serge Gainsbourg
Das Enfant Terrible der französischen Popmusik war wohl einer der konsequentesten Diebe klassischer Melodien: Beethovens Appassionata (Ma Lou Marilou), Brahms Dritte Symphonie (Baby Alone in Babylone) und Edward Griegs Peer Gynt Suite (Lost Song) mussten für seine Songs herhalten. Und bei Chopin hat sich Serge Gainsbourg überhaupt gleich zweimal bedient.
Bei einem der ersten Lieder für seine Frau Jane Birkin (Jane B.) übernahm er das bereits von Jobim beklaute Präludium in e-Moll. Und das laszive Duett Lemon Incest, das sich Gainsbourg mit seiner 12-jährigen Tochter Charlotte liefert, basiert auf Chopins Etude in E-Dur, Opus 10 No. 3.
Im Always Chasing Rainbows
Das erste Mal, dass ein Stück von Chopin in die Populärmusik eingeflossen ist, war bereits 1917. Da nahmen Harry Carroll und Joseph McCarthy seine Fantaisie Impromptu in cis-Moll, Opus 66 No. 4, und bastelten daraus Im Always Chasing Rainbows. Lange Zeit führte der Song ein Schlummerdasein, bis er in den 40er-Jahren durch das Hollywood Musical "The Dolly Sisters" zum Hit wurde.
Ab da haben viele Stars das Lied in ihr Repertoire aufgenommen: Perry Como, Tony Bennet, Ray Conniff, Judy Garland, Sammy Davis Jr., Jimmy Clanton, Barbara Streisand und andere. Sogar Rock-Bösewicht Alice Cooper hat sich über eine Coverversion des Stücks gewagt!
Hör-Tipp
Spielräume Spezial, Sonntag, 25. Juni 2006, 17:10 Uhr
Links
Fréderic Chopin - Wikipedia
Antônio Carlos Jobim - Wikipedia
Serge Gainsbourg - Wikipedia