Schuld und Entdeckung

Ein Geheimnis

Philipp Grimberts Romans "Ein Geheimnis" erzählt von einer tragisch in Schuld und Katastrophe verstrickten Familie, deren wahre Geschichte erst nach und nach ans Licht kommt. Grimbert verzichtet dabei auf jegliches Moralisieren.

Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. (...) Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar.

So beginnt Philippe Grimberts Roman "Ein Geheimnis": mit dem Bekenntnis des Ich-Erzählers, sich als Kind einen großen Bruder erfunden und damit seinen Spielkameraden ein Märchen aufgetischt zu haben. Dass er sich diesen Bruder erträumte, hatte einen Grund: Der Junge litt unter dem Alleinsein. Noch mehr aber litt er unter seinem Körper: Er wirkte klein und zurückgeblieben, war "mager, kränklich und blass".

Seine Eltern verkörperten das glatte Gegenteil: Maxime und Tania waren sportlich und durchtrainiert. "Jeder Muskel an ihnen glänzte wie die Statuen, die mich in den Gängen des Lourvre betörten", meint der Sohn, der bald auch den fiktiven Bruder nicht mehr als Schutz und Trost empfindet, sondern als bedrückende Autorität.

Wahrheits- und Identitätssuche

Er findet sich ab mit seinem "Verliererdasein" und fühlt sich nur bei Mademoiselle Louise wohl, einer alten Freundin der Familie, einer gute Zuhörerin. Bei Mademoiselle Louise wird er auch sein Herz ausschütten nach einer Prügelei in der Schule. Als nämlich ein Mitschüler Holocaustopfer als "Judenschweine" bezeichnete, schlug Maximes schwächlicher Sohn dem kräftigen Kerl "ohne eine Sekunde nachzudenken" mit aller Kraft ins Gesicht. Nachdem er Louise davon erzählte, begann sie erst zu weinen - und dann ihm seine jüdische Herkunft zu offenbaren.

Am Tag nach meinem fünfzehnten Geburtstag erfuhr ich endlich, was ich immer gewusst hatte.

Philipp Grimberts Romans "Ein Geheimnis" erzählt von einer tragisch in Schuld und Katastrophe verstrickten Familie, deren wahre Geschichte erst nach und nach ans Licht kommt, hervorgezogen hinter einem Schleier aus Schweigen, Verdrängung und Tabus. Es ist der mit lakonischen Mitteln erzählte, auf literarische Ausschmückungen ganz und gar verzichtende und sich fast wie ein Protokoll lesende Versuch der Rekonstruktion einer Familiengeschichte, der Wahrheits- und Identitätssuche.

Dunkle Vergangenheit

Lange Zeit war ich ein kleiner Junge, der sich eine ideale Familie zusammenträumte.

Das sagt der wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Ich-Erzähler, der in seinen Eltern immer nur das strahlende Paar gesehen hatte. Doch nun kommt nicht nur heraus, dass die Familie ursprünglich nicht Grimbert sondern Grinberg hieß, und dass die Sportbegeisterung der Eltern nicht zuletzt daher herrührte, glänzen zu wollen und die Herkunft vergessen zu machen.

Es kommt auch heraus, dass Maxime und Tania beide schon einmal verheiratet waren, dass Tania die Schwägerin von Maximes erster Frau war und Maxime einen Sohn aus erster Ehe hatte: Simon, das Wunschkind, ein kräftiger, gesunder Junge, der genauso wie Hannah, seine Mutter, im Vernichtungslager ums Leben kam.

Vom Trauma befreien

Während Philippe Grimberts Ich-Erzähler im ersten Drittel des kleinen Romans die offizielle Lesart der Familiengeschichte rekapituliert, versucht er in dessen weiterem Verlauf die wahren Begebenheiten zu ergründen. Um sich vom Trauma der Familiengeschichte zu befreien, war es für den Ich-Erzähler nicht genug, zurückzugehen in die Zeit vor seiner Geburt und sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen. Er musste auch seinen Eltern, die die Wahrheit für unzumutbar hielten, bekennen, dass er ihre Geschichte kennt, um sie von der Last des Geheimnisses zu befreien.

Und er musste dem, der nie eine letzte Ruhestätte gefunden hatte, seinem Bruder, ein Denkmal setzen, in dem er die Geschichte seiner Familie zu Papier brachte. "Dieses Buch", so der Erzähler, "würde sein Grab sein."

Ohne alle Schnörkel

Philippe Grimberts Roman "Ein Geheimnis" folgt dem Muster einer klassischen Tragödie: Auch hier gibt es Liebe und Verrat, gibt es Rache und Tod, gibt es die Verstrickung von Privatem und Politischem, die Flucht vor der Wahrheit, die Unausweichlichkeit der Schuld.

Grimbert erzählt schnörkellos und geradlinig. Er braucht keine Effekthaschereien, inszeniert keine Dramatik und verzichtet auf jegliches Moralisieren. Gerade dadurch gewinnt Philippe Grimberts kleiner Roman seine Eindringlichkeit.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 28. Mai 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.

Buch-Tipp
Philippe Grimbert, "Ein Geheimnis", aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518417509