Das "Lebensborn"-Schicksal einer Therapeutin

Gisela Heidenreichs "endloses Jahr"

In ihrem Buch "Das endlose Jahr" erzählt Gisela Heidenreich ihre Lebensgeschichte und jene ihrer Eltern. Die jetzige Therapeutin war eines von 12.000 Kindern, die während der deutschen Besatzung in Norwegen in einem der zehn "Lebensborn"-Heime zur Welt kamen.

Gisela Heidenreich liest aus ihrem Buch über ihre Mutter

Es war das Schweigen ihrer eigenen Mutter, das Gisela Heidenreich vor Jahren veranlasst hat, ihre eigenen Kinder- und Jugendjahre, ihre eigene Lebensgeschichte zu erforschen und kritisch zu hinterfragen. Dabei begann ein schmerzvoller, aber auch schonungsloser Dialog zwischen Mutter und Tochter.

Das Schockerlebnis

Als ihr Buch "Das endlose Jahr“ 2002 erschien, war Gisela Heidenreich bereits 59 Jahre alt; ihre Mutter war 86. Die späte Entdeckung der eigenen Biografie brachte Erkenntnisse zutage, die für die Tochter ein Schock waren:

Ihr Vater war nicht - wie von der Mutter erzählt - im Zweiten Weltkrieg in Russland gefallen; er war am Leben, und er war im Krieg als hoher Offizier der Waffen-SS in leitender Funktion in einem Lebensborn-Heim der Nazis tätig gewesen.

1935 hatte Heinrich Himmler die Lebensborn-Heime gegründet, möglichst viele "arische“ Kinder sollten hier zur Welt kommen; es wurde Nachwuchs benötigt für die "Herrenrasse“, allein mehr als 9.000 Kinder wurden von 1941 bis Kriegsende in norwegischen Lebensborn-Heimen geboren. Gisela Heidenreich - 1943 in Oslo zur Welt gekommen - war eines dieser Kinder. Ihre Mutter war für den Lebensborn als Sekretärin und später auch in leitenden Funktionen tätig gewesen.

Tochter, nicht Richterin

Als Gisela Heidenreich ihre Mutter mit immer neuen Fragen konfrontiert, stößt sie auf immer neue Lügen. Dennoch finden sich in ihrem Buch viele versöhnliche Töne:

"Ich bin ihre Tochter. Nicht ihre Richterin", schreibt sie u. a. darin. Als das Buch erscheint, muss sich die Mutter den Vorwürfen der Tochter stellen. Das Buch selbst wird zum internationalen Bestseller. Bis heute wurden mehr als 80.000 Exemplare verkauft. Unter dem Titel "Sie war meine Mutter" wird im Herbst auch der Film zum Buch zu sehen sein.

Das Kind meiner Schwester

Aufgewachsen ist Gisela Heidenreich in Bad Tölz und München - bei einer Tante, die sie anfangs für ihre Mutter hält. Erst Jahre später erklärt man ihr, dass eine andere Tante, die manchmal zu Besuch gekommen ist, ihre wirkliche Mutter ist.

Als sie vier Jahre alt ist, kommt ihre Mutter bei den Nürnberger Prozessen als Angeklagte in Haft. An die Verhaftung kann sie sich noch heute erinnern, obwohl sie damals das Weggehen der Mutter mit amerikanischen Soldaten nicht zuordnen konnte. Von der eigenen Mutter kommt eher Zurückweisung: "Die Lügen meiner Mutter gehören zu meinem Alltag, seit ich denken kann", ist im Buch zu lesen. Kaum hat die kleine Tochter gelernt, dass Tante Anni nun ihre Mutter sei, beginnt die Mutter diese Beziehung vor anderen zu verleugnen. Als die Mutter in einem Autobus nach dem Kind an ihrer Seite gefragt wird, sagt sie - zum Entsetzen der kleinen Tochter neben ihr: "Das ist das Kind meiner Schwester ..."

Die Tochter eines Mörders

In ihrer Erinnerung meint Gisela Heidenreich, die Lebensborn-Heime wären keine bordellartigen Anstalten gewesen, wo man SS-Offizieren gezielt blonde Frauen zuführte, wie immer wieder zu lesen sei: "Aber es waren auch keine sozial-caritativen Einrichtungen, wie im Nürnberger Prozess der Freispruch für den Lebensborn begründet wurde".

Ihre Mutter hat in unterschiedlichen, nie ganz geklärten Funktionen für den Lebensborn in Deutschland gearbeitet, mit ihrem Vorgesetzten, einem verheirateten SS-Oberführer zeugt sie ihre Tochter Gisela. Als sie schwanger ist, kommt die junge arische Mutter ins Lebensborn-Heim nach Oslo.

Im Laufe ihrer Recherchen erfährt sie schließlich auch, dass sie die Tochter eines Mörders, des SS-Oberführers Karl Friedrich Kettler ist, der mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Frankfurt am Main lebt.

Familientherapeutin und Mediatorin

Nach dem Studium der Pädagogik arbeitet Gisela Heidenreich zunächst als Grundschullehrerin. Nach einem weiteren Studium der Sonderpädagogik und der Psychologie an der Universität München und einer Zusatzausbildung zur Montessori-Pädagogin lässt sie sich zur Paar- und Familientherapeutin, später auch zur Mediatorin ausbilden. Danach unterrichtet sie an Sonderschulen lern- und verhaltensauffällige Kinder und bildet auch andere Paar- und Familientherapeuten aus.

Seit vielen Jahren arbeitet die zweifache Mutter zweier Kinder nun schon als Therapeutin und Mediatorin mit eigener Praxis. Johannes, ihr drittes Kind, ist vor fünf Jahren im Alter von 17 Jahren bei einer Bootsfahrt auf dem Ammersee gestorben. Der Gedichtband ihres Mannes Gert - "Im Augenlicht" - beschäftigt sich immer wieder mit dem Tod des gemeinsamen Sohnes. Über das tragische Schicksal ihres Buben wollte Gisela Heidenreich selbst nicht reden.

Spurensuche geht weiter

Ein wichtiger Aspekt in ihrer therapeutischen Arbeit ist auch die Traumarbeit, das genaue Hinschauen auf die Träume und ihre Botschaften. Die Traumforscherin und Therapeutin Ortrud Grön - die vor einiger Zeit in der Reihe "Menschenbilder“ zu hören war - wurde ihr dabei zu einer wichtigen Lehrerin und Wegbegleiterin. Träume werden aufgeschrieben, erzählt, werden dann gemeinsam mit dem Therapeuten sorgsam beleuchtet.

In den letzten Monaten hat Gisela Heidenreich an einem neuen Buch über ihre Mutter gearbeitet. Nach dem Tod ihrer Mutter hat sie viele Briefe gefunden. Das neue Buch - es erscheint im kommenden Frühjahr - handelt von einer heimlichen brisanten Liebesgeschichte ihrer Mutter. Dabei hat die Tochter ihre Mutter wieder von einer neuen überraschenden Seite kennengelernt, auch noch nach ihrem Tod.

Mehr dazu in Ö1 Programm

Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 14. Mai 2006, 14:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Gisela Heidenreich, "Das endlose Jahr", S. Fischer Verlag, ISBN 3596160286

Link
Fischer Verlag - "Das endlose Jahr"