Hat das "europäische Modell" noch Zukunft?
Heimat Sozialstaat
Während für den US-amerikanischen Intellektuellen Jeremy Rifkin das europäische Gesellschaftsmodell ein Vorbild für eine zukunftsträchtige Weltordnung ist, gerät der Sozialstaat in Europa selbst zunehmend in Misskredit.
8. April 2017, 21:58
Drei Modelle industrieller Gesellschaften hatte der in England lebende Soziologe Ralf Dahrendorf in den 1990er Jahren unterschieden: erstens das amerikanische Modell mit Wirtschaftswachstum und politischer Freiheit, aber mit geringem sozialen Zusammenhalt, zum Zweiten das Modell der ostasiatischen Industriestaaten, das wirtschaftlichen Fortschritt und soziale Stabilität mit konservativen Werten verband, die Freiheit dem aber unterordnete, und als Drittes das Modell des europäischen Wohlfahrtsstaats. Dieser zeichnete sich, so Dahrendorf, durch hohe wirtschaftliche Chancengleichheit und politische Freiheit aus, bekäme aber zunehmend Probleme mit der in einer globalisierten Welt notwendigen Flexibilität und der Wettbewerbsfähigkeit, weil sein Wirtschaftswachstum hinter dem der beiden anderen Modelle hinterher hinke.
Europa in der Krise
Zehn Jahre später diagnostiziert der aus Deutschland stammende amerikanische Historiker Walter Laqueur in der Zeitschrift "Merkur", August 2005, gnadenlos:
Überall in Europa ist eine Krise des Sozialstaates festzustellen, die Leistungen werden gekürzt, weil die Regierungen angesichts einer schwierigen Wirtschaftslage und einer alternden Bevölkerung einfach nicht länger im Stande sind, die nötigen Mittel bereitzustellen.
Letzter Hort des Widerstands
Der streitbare US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin sieht hingegen gerade im europäischen Modell den letzten Hort des Widerstands gegen einen globalen Kapitalismus und die Rationalisierung der Lebenswelten, gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und die Einebnung von kultureller Vielfalt.
Obwohl sich das amerikanische Jobwunder als kurzlebig und weniger robust erwiesen hat, betrachten viele europäische Politiker und Offizielle die USA noch immer als wegweisenden Ideengeber. Ihr Enthusiasmus geht fehl. Sollte die Europäische Union einen Gutteil ihrer sozialen Sicherungsnetze zu Gunsten liberalerer Marktverhältnisse aufgeben, würden ihre 455 Millionen Menschen möglicherweise mit den schweren sozialen Missständen konfrontiert, die heute die USA plagen, von der schärferen Einkommensungleichheit und der höheren Verarmung bis hin zu Gesetzeslosigkeit und Schwindel erregenden Zahlen von Gefängnisinsassen.
Außerdem, so fügt Rifkin hinzu, sei die Lebenserwartung in Europa höher und auch die Lebensqualität.
Vier europäische Gesellschaftsmodelle
Vielleicht ist aber auch die ideologische Fixierung auf ein europäisches Gesellschaftsmodell, das man je nach Position bejubelt oder ablehnt, falsch. Auf Initiative von Premierminister Tony Blair legten während der englischen EU-Präsidentschaft im Vorjahr mehrere europäische Forschungsinstitute (darunter auch das Wiener WIFO) einen Vergleich von vier europäischen Gesellschaftsmodellen vor: dem kontinentaleuropäischen, dem angelsächsischen, dem mediterranen und dem skandinavischen Modell.
Das kontinentaleuropäische und das mediterrane Modell seien eher ineffizient und nicht nachhaltig, meinte der Autor einer der vorgelegten Studien, der französische Ökonom André Sapir. Die beiden anderen Modelle, also das angelsächsische und das skandinavische Modell, schnitten am besten ab, was die Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb betrifft. Beide Modelle weisen ein höheres Wachstum und geringere Arbeitslosenraten auf, sie unterscheiden sich aber grundsätzlich, was die Sozialpolitik betrifft, denn die skandinavischen Staaten legen weiterhin großen Wert auf hohe soziale Standards, die durch vergleichsweise höhere Steuern finanziert werden. Diese Länder bemühten sich auch um eine Verminderung von Armut und Ungleichheit und investierten stark in die Aus- und Weiterbildung ihrer Bürger.
Nach dem EU-Gipfel in Hampton Court, bei dem diese Studien vorgelegt wurden, resümierte die Tageszeitung "Die Presse": "Die besten Chancen, Europa wettbewerbsfähig zu machen und zugleich die Bürger vor den negativen Folgen der Globalisierung zu schützen, gaben mehrere dort präsentierte Studien dem so genannten skandinavischen Modell." Sollte also der geschmähte europäische Sozialstaat doch noch eine Zukunft haben?
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 29. April 2006, 17:05 Uhr
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Buch-Tipp
Jeremy Rifkin, "Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht", Campus Verlag, ISBN 3593374315
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