Die letzten Live-Rock'n'Roller der Politik
Idealisten an der Macht
Der politische Werdegang Joschka Fischers dient Paul Berman als Aufhänger für seine Bestandsaufnahme der 68er Bewegung und ihrer Wege in die Realpolitik. Fischer hält heute in Wien einen Vortrag zum Thema "Europa und der Nahe Osten".
8. April 2017, 21:58
Joschka Fischer bei der NATO-Sicherheitskonferenz 2003
Als der deutsche Außenminister Joschka Fischer aus Amt und Würden schied, richtete er seinen Nachfolgern wenig charmant aus, dass er einer der "letzten Live-Rock'n'Roller der deutschen Politik" gewesen sei. Jetzt käme "in allen Parteien die Playback-Generation."
Der Provokateur als Realpolitiker
Als Politiker hat Fischer Geschichte geschrieben: Als erster grüner Minister eines deutschen Bundesland latschte er demonstrativ-provokativ in Turnschuhen zur Angelobung. Im Bundestag war er in den 1980er und 1990er Jahren ein angriffiger und wortgewaltiger Oppositionspolitiker. Berühmt geworden ist etwa sein an den Bundestagsvizepräsidenten gerichteter Ausspruch: "Mit Verlaub Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch."
Zeit seines Lebens erwies sich Fischer als wandlungsfähig: Vom revolutionär-militanten Bürgerschreck wandelte er sich zum passionierten Parlamentarier und Realpolitiker und schließlich zum international geachteten Staatsmann.
Genügend spannender Stoff für eine Biografie - die der angesehene amerikanische Intellektuelle Paul Berman allerdings nicht geschrieben hat. Sein Buch "Idealisten an der Macht" hat zwar ein Foto von Joschka Fischer auf dem Umschlag und Fischer ist darin auch die zentrale Figur, aber es ist dennoch eher eine Bestandsaufnahme der 68er Bewegung insgesamt und ihres erstaunlich lebendigen und wirkungsmächtigen Erbes.
Die "Fischer-Affäre" im Rückblick
Paul Bermans Buch beginnt mit einer Bilderstrecke: drei Fotos, die im Jänner 2001 durch die Presse und um die halbe Welt gingen. Sie dokumentieren eine Prügelei zwischen vier Demonstranten und einem Polizisten, die im April 1973 am Rande einer Demonstration in Frankfurt stattgefunden hatte: Im Bildmittelpunkt, beim tätlichen Angriff auf einen Polizisten: Joschka Fischer.
Fischer soll 1976 auch an einer Straßenschlacht teilgenommen haben, in deren Verlauf ein Polizist durch einen Molotowcocktail schwer verletzt wurde. Ein weiterer Vorwurf: In der Wohngemeinschaft von Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt sollen sich in den frühen 70er Jahren nicht nur Helden der Gegenkultur wie Abbie Hoffmann und Jerry Rubin und linke Intellektuelle wie André Glucksmann aufgehalten haben, sondern für ein paar Tage auch Margrit Schiller, die sich später der RAF anschloss.
Paul Berman lässt die "Fischer-Affäre" und die Auseinandersetzung um Cohn-Bendit am Beginn seines Buches noch einmal ausführlich Revue passieren. Dahinter sieht er ein Bedürfnis seitens der Öffentlichkeit und Medien, sich kritisch mit der so genannten "68er Bewegung" auseinanderzusetzen, deren Repräsentanten schließlich an die Macht gekommen waren.
Verästelungen der Neuen Linken
Das Buch mit dem etwas übertrieben religiös gefärbten Subtitel "Die Passion des Joschka Fischer" ist nicht nur ein Buch über Joschka Fischer, sondern über die gesamte revolutionär gesinnte Neue Linke. Auch Berman selbst gehörte dieser in den 70er Jahren an, er kennt viele ihrer führenden Vertreter persönlich und ihre ideologische Verästelung aus eigener Erfahrung.
Die "68er Bewegung" war, so Bermann, ein ideologisch höchst heterogenes Sammelsurium. Auf der einen Seite libertäre und antiautoritär eingestellte Freaks und Freigeister, die sich in den 1970er Jahren zur so genannten "Sponti-Szene" entwickelten; auf der anderen Seite dogmatische Marxisten und militante Maoisten, deren extremste Vertreter später in den Terrorismus abglitten. Allen Fraktionen gemeinsam war die intensive Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Elterngeneration, aus welcher heraus auch der Einsatz von Gewalt als politischem Mittel gerechtfertigt wurde - nämlich gegen die "neuen Nazis", die viele in den Amerikanern und deren Krieg in Vietnam oder auch in Israels Palästinapolitik zu erkennen glaubten.
Die Frage der Gewalt
Diese extreme ideologische Vereinfachung führte dazu, dass viele Linke viel zu lange die Roten Khmer in Kambodscha unterstützten - um dann ein böses Erwachen zu erleben. Auch palästinensische Terrorkommandos stießen in den 1970er Jahren vielfach auf Verständnis seitens der Linken.
Antisemitismus und Völkermord, eine vertraute Kombination. Es wurde deutlich, dass die Neue Linke, zumindest in ihrer radikaleren oder revolutionären Erscheinungsform, nicht, wie man sich das allgemein vorgestellt hatte, eine antinazistische Bewegung war. Ganz im Gegenteil. Das war ein gewaltiger, nahezu unvorstellbarer Schock.
Berman zeigt, wie zentral die Frage der Gewalt innerhalb der Linken bis heute geblieben ist. Zum Beispiel im ersten Golfkrieg, den eine Reihe von Alt-68ern unterstützte, oder auch im Kosovo-Krieg, der einige von ihnen, wie Joschka Fischer oder Javier Solana, an entscheidenden Stellen sah. Diesen Bogen verfolgt Bermann bis zum Ausbruch des Irak-Kriegs 2003.
Im Sommer 2003 befürworteten einige von diesen Achtundsechzigern, die sich als militante Menschenrechtler verstanden, weiterhin eine Intervention im Namen der Freiheit und ließen sich dabei auch von George W. Bush nicht abschrecken.
Andere allerdings bezogen vehement Stellung gegen den Krieg. Allen voran Joschka Fischer, der im April 2003 bei der NATO-Sicherheitskonferenz eine Rede in Anwesenheit von US-Verteidigungsminister Rumsfeld hielt, in der die Leidenschaft und der Widerstandsgeist von 1968 noch einmal auflebten.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-ClubdownloadabonnentInnen können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Paul Berman, "Idealisten an der Macht. Die Passion des Joschka Fischer", aus dem Amerikanischen übersetzt von Helmut Dierlamm und Werner Roller, Siedler Verlag, ISBN 3886808467
Veranstaltungs-Tipp
Joschka Fischer, Europa und der Nahe Osten, 20. Jan-Patocka-Gedächtnisvorlesung, Dienstag, 28. März 2006, 19:00 bis 21:00 Uhr, Einlass ab 18.30 Uhr, Volkshalle des Wiener Rathauses, Eingang Lichtenfelsgasse
Links
IWM - Joschka Fischer, Europa und der Nahe Osten
Random House - Idealisten an der Macht
Grüne Bildungswerkstatt - Joschka Fischer