Wertende Abstufungen in der Musik

Herrlich dämlich

Männlich steht für brillant und stark, weiblich für schön und sanft: Bis heute verwenden Musikkritiker, Musiker und Pädagogen, wenn sie über Musik schreiben, die Begriffe männlich und weiblich in wertenden, ungleichen Kategorien. Eine Beobachtung.

Am 2. Jänner 2006 veröffentlichte "Der Standard" einen Gastkommentar über Kunstfreiheit: "Mittelmäßige Klavierspielerinnen plagten die Nachbarn mit ihrem Geklimper - und ersuchte man um ein bisschen Rücksicht, schon hieß es keck: Kunstfreiheit!"

Keck verbindet sich da Dilettantismus mit weiblichem Geschlecht, hehre Herrlichkeit mit Kunst. Man(n) will seine Ruhe haben.

Guldas bezeichnender Vergleich

In den Akten seines Managers Siegmar Bergelt fand ich eine Notiz Friedrich Guldas aus dem Jahr 1968, in der er seine beiden Gesamtaufnahmen der Beethoven Sonaten miteinander vergleicht:

"1. Satz der Hammerklaviersonate 54: klanglich nicht so gut, nicht so ausgeglichen, viele falsche Noten (!) beinahe etwas schülerhaft. 67: Das alles verbessert, mehr aus einem Guss, nicht so pitzlig! Männlicher!"

Wertungen männlich-weiblich

"Mir selber tut diese unterschiedliche Bewertung weh und sie hat mir immer wehgetan. Und dieser Schmerz hat mich dazu gebracht, Bücher zu schreiben", sagt Elisabeth Schrattenholzer, Kommunikations- und Stimmtrainerin und Universitätsdozentin. Ihr neuestes Buch heißt "Sorry Nathan - Wortblind und sinntaub. Die Beschädigung des Denkens durch die Sprache des Patriarchats", ist im Vorjahr im Czernin Verlag erschienen.

Zwei Beispiele

Ein paar hübsche Beispiele aus Konzertführern einflussreicher deutscher Schreiber des 19. und 20. Jahrhunderts:

So schrieb Hermann Kretzschmar, Berliner Hochschuldirektor: "Die 3. Sinfonie von Johannes Brahms zeichnet das Bild einer Kraftnatur, die trübe Gedanken und sinnliche Lockungen gleich entschieden abwehrt. Das Motto des ersten Satzes erscheint als Stimme des Triumphes, das Hauptthema tritt kampfeslustig und ungewöhnliche Energie vorspiegelnd auf. Das Seitenthema möchte mit zarten Regungen die herkulischen Elemente der Komposition einzuschlummern suchen. Aber vergeblich: es folgen immer nur kühnere Äußerungen des starken Muts. Das verführerischste in dieser Gruppe von Dalila-Gestalten ist das zweite Thema."

Und Max Kalbeck, Brahms-Experte, geht noch weiter: "Das Eröffnungsmotiv lockt den Helden aus dem Märchenwald der Romantik zu Spiel und Kampf. Auf seinem abenteuerlichen Weg begegnet ihm eine gefällige Schöne, die jedes Männerherz erobert. Sie scheint ganz Einfalt, ganz Unschuld, ganz Natur. Seht nur wie sie tänzelt und schwänzelt, wie sie sich wendet und dreht und bei jeder Bewegung ihrem biegsamen Körper neue Reize abgewinnt. In dem meisterhaft gezeichneten weiblichen Porträt finden wir die Merkmale des Gattungscharakters, das Weib schlechthin. Der Gynäkophile wird es adorieren, der Misogyne die beleidigende Frage stellen, ob die holde Schäferin nicht etwa ein verkleidetes, mit Heugeruch parfümiertes Stadtfräulein sei. Die reizende Verführerin braucht nur mit dem kurzen Röckchen zu schwenken und der verliebte Tor ist von ihren Reizen ganz bezaubert."

Keine Chance für Frauen

Max Kalbeck rettet aber doch schlussendlich in seiner Beschreibung der Dritten Brahms den verliebten Tor vor einer Ehe. Die Frau hat keine Chance - selbst die Ehe wäre eine Niederlage für den Helden.

Gemeinsam mit der sogenannten Erklärung der Sinfonie wird eine Rollengestaltung vermittelt und eine Gebrauchsanweisung für das Leben gegeben, vor allem für das Liebesleben der Männer. Die klassische Sonatensatzform wird als Geschlechterkampf erklärt.

Rollenverhältnis wird etabliert

Beatrix Borchard, Musikwissenschafterin und Professorin an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater, kommentiert die Musikkommentatoren:

"Es ist ganz klar, da wird ein Verhältnis etabliert, ein Rollenverhältnis. Es sollte die Frauen, die man als Zuhörerinnen aber nicht als Kulturproduzentinnen haben wollte, einschwören auf ihren Platz in der Gesellschaft."

Von Musiktheoretikern formuliert

Die Komponisten selbst haben diese Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit nicht formuliert. Das taten jene, die über sie und die Musik schrieben wie der enorm einflussreiche Musiktheoretiker Adolf Bernhard Marx. Wie sagte Brahms über seinen Kompositionsunterricht:"Gelernt habe ich gar nichts, ebensowenig aus den dicken Büchern von Marx".

Männlich wird in der Musik im 19. Jahrhundert genannt: frisch, energisch, bestimmt, herrschend und herrlich, absolut gebildet, genau strukturiert, formal richtig, meisterlich, interessant. Männlich ist die Beherrschung des strengen Stils, die theoretische Durchbildung, Gewandtheit in der Orchestration, ernster Geist, Seriosität, strenge Schulung, das Verwenden klassischer Muster, männliche Kraft, männlicher Mut, ein scharfer richtiger Geist, Herbheit, das Komponieren nach Gesetzen der Logik, Gründlichkeit, Selbständigkeit, Edelmuth, Vornehmheit und gesunder Geist. Weiblich ist dienend, anschmiegsam, mild, abhängig, idealiter schön, kraftlos, uninteressant.

"Herr Kollege" Luise Adolpha Le Beau

1874 wollte die junge Komponistin Luise Adolpha Le Beau (1850-1927) beim renommierten Lehrer Joseph Rheinberger Komposition studieren. Sie wurde abgelehnt - Rheinberger unterrichte keine Damen. Dämlich.

Luise spielte ihm ein Werk vor - Rheinberger änderte nun seine Meinung, nannte sie "Herr Kollege", nannte ihre Musik "männlich und nicht von einer Dame komponiert". Und nahm sie - oder sollte man nun ihn sagen? - zum Schüler, zur Schülerin.

Überflüssige Zuschreibungen

Um als professionelle Komponistin oder besser noch als Komponist agieren zu können, musste Luise Adolpha Le Beau eine Geschlechtsumwandlung machen.

"Keine Frage", sagt Beatrix Borchard, "dass diese Zuschreibungen überflüssig sind, dass sie (fast) kein Mensch benützen würde, oder zumindest nicht mehr drucken ließe. Aber es bleibt doch unleugbar, dass diese Zuschreibungen ihre Wirksamkeit entfaltet haben."

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag bis Donnerstag, 20. bis 23. März 2006, jeweils 9:45 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendereihe "Radiokolleg" gesammelt jeweils am Donnerstag nach Ende der Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen

Buch-Tipp
Elisabeth Schrattenholzer, "Sorry Nathan. Wortblind und sinntaub. Die Beschädigung des Denkens durch die Sprache des Patriarchats", Czernin Verlag, ISBN 3707600505

Links
AEIOU - Max Kalbeck
Komponisten - Friedrich Gulda
Wikipedia - Adolf Bernhard Marx
Wikipedia - Luise Adolpha Le Beau
Czernin Verlag
Der Standard