Ein Vorschlag zur europäischen Verfassungsdebatte

Abschreiben ist die beste Lösung

Juristische Texte sind auch Literatur. Mit dieser These im Ärmel erlaubt sich der Literaturkolumnist einen nur scheinbar ressortfremden Ausflug in die Politik: Was wird aus dem einst hoffnungsvollen Sprachwerk der europäischen Verfassung?

"Besser gut abgeschrieben, als schlecht selbst geschrieben!" Das meinte der große Bert Brecht einmal, als er gerade auf frischer Tat ertappt worden war. Was übrigens öfter vorkam.

Der Ausspruch des Dichters soll, ich sage es offen, eine für Literaturkolumnisten "ressortfremde" Beschäftigung rechtfertigen: einen Ausflug in die internationale Politik. Wobei "ressortfremd" nur scheinbar zutrifft. Zuletzt ist ja alles Literatur. Unter dem entsprechenden Blickwinkel erweist sich sogar die Relativitätstheorie als Literatur: Sie ist ein sprachliches Gebilde, wenn ihre Sprache der Gleichungen auch etwas abgelegen sein mag, sie ist ein Produkt des menschlichen Geistes, und sie liefert so etwas wie Erklärungswert - Gründe und Ursachen für die Vorgänge in der Welt. Sie ist eine Erzählung mit Sinngehalt, also exakt das, was man nach üblichem Verständnis als Literatur definiert. Und offenbar gilt das für jede wissenschaftliche Theorie, inklusive jener, dass die Erde um die Sonne kreist.

So weit die Vorrede, nun zur Sache. Jene Textsorte, die das reale Leben der Menschen am stärksten beeinflusst, jedenfalls seit Erfindung der Zivilisation, ist natürlich nicht die der naturwissenschaftlichen Erklärungsgebäude. Es sind auch nicht die Gebrauchsanleitungen unserer Mobiltelefone und Videorecorder, schon deshalb nicht, weil diese ja noch komplexer, kryptischer und auslegungsbedürftiger sind als die Geheime Offenbarung des Johannes. Und natürlich sind es schon gar nicht Romane, Bühnenwerke oder Gedichte, die überhaupt noch nie etwas bewirkt haben. Sondern es sind die juristischen Texte: Gesetze und Gerichtsurteile, Bescheide, Verordnungen und Verfassungen.

Nun höre ich den Einwand, dass diese nicht nur die Geheime Offenbarung, sondern meist sogar die Gebrauchsanweisungen von Mobiltelefonen und Videorecordern an Vertraktheit und Unbegreiflichkeit übertreffen, und sie schon deshalb im wirklichen Leben keine Rolle spielen könnten. Das stimmt nicht. Die Juristen haben sich ein feines Prinzip ausgedacht, das für keine andere Textproduktion außer der ihren gilt: "Unwissenheit schützt vor Strafe nicht." Es ist ganz egal, wenn niemand verstehen kann, was sie schreiben, wenn der Sinngehalt ihrer Texte vollständig verborgen bleibt. Sie gelten trotzdem.

So weit die zweite Vorrede, nun also wirklich zur Sache. Die Verfassung der Europäischen Union ist offensichtlich ein Sprachgebilde, das geradezu exemplarisch in die Schublade des gänzlich Unnahbaren, Magisch-Juristischen fällt. Ob sie dort verbleiben und verstauben soll oder nicht, ist Gegenstand heftiger Debatten unter Eingeweihten. "Eingeweiht", das meint hier nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinn: zu geheimen, hermetischen Praktiken geweiht.

Der gegenwärtige österreichische EU-Vorsitz ist in diesem Punkt ja durchaus bedauernswert. Während ihm da vorgeworfen wird, zu wenig zur Wiederbelebung der EU-Verfassung zu tun, kommt von dort die exakt gegenteilige Kritik: Man möge doch endlich aufhören, Energie, Zeit und Ressourcen für dieses ein für allemal tote Werk der juristischen Dichtkunst sinnlos zu verschwenden.

Bertold Brecht würde da sein berühmtes Grinsen aufsetzen, kurz an der Zigarre ziehen und sagen: Abschreiben ist immer die beste Lösung. Schreibt doch einfach die amerikanische Verfassung ab.

Und in der Tat: Die US-Verfassung existiert seit 1776, also seit mittlerweile 230 Jahren, und sie funktioniert. Unverändert, wohlgemerkt. Sie wurde noch im vorindustriellen Zeitalter geschrieben, und sie hat nicht nur die Industrialisierung und weiters die Erfindung von Mickey Mouse und McDonalds überlebt, sondern sie funktioniert sogar in der postindustriellen, postmodernen, informationsgesellschaftlichen Ära samt Globalisierung genauso.

Während anderswo inzwischen Staaten, Reiche, ja ganze Imperien entstanden und verschwanden, existiert der US-Staat auf Basis dieser Verfassung für diese ganze Zeitspanne kontinuierlich und beständig. Er ist derweilen von einem läppischen Bund von 13 winzigen Staaten, für die das Attribut "peripher" - damals - noch eine Übertreibung gewesen wäre, zur "einzig verbliebenen Weltmacht" gewachsen. Geschrieben für eine Einwohnerzahl im einstelligen Millionenbereich hält die US-Verfassung 230 Jahre später eine Republik von 300 Millionen immer noch bestens zusammen. Erdacht für eine Ökonomie, in der das Pferd das effizienteste Transportmittel für Menschen, Güter und Information war, bewährt sie sich im Zeitalter des "Global Village" geradeso.

Man könnte noch viel über die Vorzüge dieses Texts von John Adams, Thomas Jefferson, James Madison und Alexander Hamilton schreiben, der sich als einer der wenigen der Sorte "juristisch" auch dem Normalleser jederzeit erschließt. Über seinen großen Plan und über seine Details. Aber schon der kurze Blick auf jene paar Fakten macht klar, dass Brecht Recht hatte. Ohne die berührenden Ambitionen des "Vaters" der EU-Verfassung, Valery Giscard d'Estaing, und seiner Mitkämpfer ignorieren zu wollen, kann man doch nur sagen: Forget it. Schreibt die US-Verfassung ab, und die Sache ist erledigt.

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