Countdown der Katastrophe

Hiroshima

Stephen Walker ist als hauptberuflicher Filmemacher ein "Augenmensch", und so liest sich seine fesselnde Chronik der Ereignisse zwischen dem 16. Juli und dem 6. August 1945 mehr wie ein Drehbuch als wie eine historische Analyse.

Als in der Wüste von New Mexico, drei Wochen vor dem Angriff auf Hiroshima, die erste Atombombe gezündet wurde, war der Krieg in Europa gerade mal zwei Monate vorbei.

Ein glühender, immer größer werdender Feuerball ging wie eine zweite Sonne über der Wüste auf und versetzte jeden in Schrecken, der ihn sah. In der ersten Millisekunde glich er etwas gespenstisch Außerirdischem, einem riesigen gehirnförmigen Gebilde mit auffliegenden Feuerzungen, das den Himmel zerfetzte. Der grelle Blitz, der tausendmal heller war als die Sonne, tauchte die Berge und die Wüste in eine Klarheit und Schönheit, die keiner der Augenzeugen je vergessen sollte.

Fast wie ein Drehbuch

Stephen Walker, der englische Autor des Buches "Hiroshima. Countdown der Katastrophe", ist als hauptberuflicher Filmemacher ein "Augenmensch". Und so liest sich seine fesselnde Chronik der Ereignisse zwischen dem 16. Juli und dem 6. August 1945 mehr wie ein Drehbuch als wie eine historische Analyse. Beginnend mit den letzten Tagen vor dem ersten Atomtest und endend mit der 140.000 Todesopfer fordernden Zerstörung Hiroshimas sind es die harten Schnitte, die sein Buch kennzeichnen.

Immer enger knüpft Walker das Netzwerk der Schauplätze rund um den Globus - Washington, Los Alamos, Tokio, Hiroshima, Moskau, Potsdam -, immer kürzer werden die Zeittakte des Countdowns, immer tragischer verweben sich Biografien der Beteiligten. Dabei konfrontiert der minutiöse Bericht gnadenlos die nüchterne Hybris von Wissenschaftlern und Militärs, die daran arbeiteten, die Urkräfte des Universums auf Erden zu entfesseln mit der Ahnungslosigkeit der Opfer vor und ihrem grenzenlosen Leid nach der Detonation der Bombe über Hiroshima.

Es ist die kühle Beschreibung der perfekten Logistik des anonymen Tötens, die dieses Buch zum wichtigen Beweisstück dafür werden lässt, dass mit der Entwicklung und dem Abwurf der ersten Atombombe Hitlers Methode des organisierten Massenmordes - als Drohung letztlich bis heute - fortgesetzt wurde. Walkers nüchterner Blick auf die Realitäten ist dabei aber alles andere als kalt: Mit Berichten der letzten Augenzeugen gelingt es ihm im Buch wie in der gleichnamigen TV-Dokumentation, den unvorstellbaren Horror aus der kollektiven Verdrängung zu befreien.

Countdown des Grauens

Stephen Walker schafft in diesem sehr narrativen Sachbuch Erstaunliches. Er entzieht sich in seinem Bericht über diese Katastrophe, die alle Vorstellungen und ethischen Regeln sprengte, jeglicher Wertung. Weil er nur den Countdown des Grauens ablaufen und die betroffenen Menschen zu Wort kommen lässt, formen sich die Bilder und Gefühle im Leser selbst. Er wird - wie wohl auch der Autor - hin- und her gerissen zwischen der Faszination der entfesselten kosmischen Gewalten und dem schonungslosen, fast voyeuristischen Blick in diese von Menschen gemachte Hölle auf Erden. Gepackt von der logistischen Kälte des Massenmords und fassungslos gegenüber der Verantwortungslosigkeit der Täter, die aus den immer wieder eingestreuten Zitaten spricht:

"Der Einsatz war keine große Entscheidung, jedenfalls keine, die einem Kopfzerbrechen bereitete. Wenn man mit einer Bestie zu tun hat, muss man sie wie eine Bestie behandeln." US-Präsident Harry Truman

"Keiner in meinem Flugzeug hatte je das geringste emotionale Problem oder eine schlaflose Nacht wegen der Hiroshima-Mission." Paul Tibbets, Captain des Hiroshima-Bombers

Ständige Bedrohung

Stephen Walkers Buch ist mehr als ein Stück Zeitgeschichte. Zwar fokussiert es unsere Aufmerksamkeit auf ein viele Jahre zurückliegendes Ereignis. Zugleich könnte es aktueller nicht sein, denn die ungeschriebenen Gesetze des Gleichgewichts der Kräfte, das gleich nach dem ersten Einsatz der Atombombe die Grundlage des Ost-West-Gegensatzes bildete, sind nach dem Zusammenbruch der UdSSR längst Makulatur.

Nach wie vor lagern nicht nur 13.000 atomare Gefechtsköpfe in den weltweiten Waffenarsenalen, auch die atomaren Gelüste der nord-koreanischen und iranischen Diktatoren, die unverhohlenen Drohungen der USA mit einem atomaren Präventivschlag gegen den Iran, das Gerede chinesischer Generäle über einen Atomkrieg mit den USA, bis hin zum blühenden Schwarzmarkt mit waffenfähigem Uran lassen ahnen, dass der "Countdown der Katastrophe" längst schon wieder angezählt wird. Deshalb ist Stephen Walkers Buch nicht nur ein bewegendes, sondern auch ein wichtiges Zeugnis.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Stephen Walker, "Hiroshima. Countdown der Katastrophe", aus dem Englischen übersetzt von Harald Stadler, Bertelsmann Verlag, ISBN 3570008444