Polierte Oberflächen
Filmstoffe auf der Opernbühne
"Sophies Choice" an der Volksoper und "The bitter tears of Petra von Kant" an der English National Opera in London. In beiden Fällen sind Filmstoffe die Basis für die neuen Bühnenwerke, deren Musik jeweils von britischen Komponisten stammt.
8. April 2017, 21:58
Ende September hat sie an der Deutschen Oper Berlin schon Premiere gehabt: die Produktion von Nicholas Maws Oper "Sophies Choice. Im Oktober, mit Premierendatum Nationalfeiertag, 26. Oktober 2005, wird sie an die Volksoper Wien übersiedeln. Wie in Berlin wird der neue Volksopern-Musikchef Leopold Hager dirigieren und Angelika Kirchschlager die Titelrolle verkörpern.
"Sophie's Choice"
1982 wurde die Verfilmung des Romans "Sophie's Choice" von William Styron mit Meryl Streep in der Hauptrolle zum Welterfolg. 2002 erlebte Nicholas Maws gleichnamige Oper ihre umjubelte Uraufführung im Royal Opera House Covent Garden. "Das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung" heißt es im Talmud.
Wo war der Mensch?
Sommer 1947. In einem Mietshaus in Brooklyn, New York, begegnen einander drei Menschen: Sophie, Nathan und Stingo. Sophie, eine junge Polin, und Nathan, der sich als Biologe ausgibt, sind aussichtslos aufeinander angewiesen. Stingo, ein junger Mann aus den Südstaaten, schreibt an seinem ersten Roman. Im Laufe der Zeit erzählt Sophie ihm von ihrer Vergangenheit:
Wegen einer Bagatelle 1943 nach Auschwitz deportiert, "durfte" sie sich bei ihrer Ankunft im Lager als katholische Polin entscheiden, welches ihrer beiden Kinder - Jan oder Eva, den Buben oder das Mädchen - sie freiwillig hergibt. Sie opferte das Mädchen, in der Hoffnung, den Buben zu retten. Schließlich finden beide Kinder den Tod, allein sie selbst überlebt - aber nur physisch. Die Entscheidung ihres Lebens hat Sophie innerlich zerstört. "Wo war Gott in Auschwitz?", fragt der Erzähler am Ende des Stücks. Die Antwort lautet: "Wo war der Mensch?"
Tragische Wendung
Ein forderndes Stück, das der Regisseur der Volksopern-Aufführung, Markus Bothe, aber nicht als reine Holocaust-Oper verstanden wissen will:
Wir erleben eine Liebesgeschichte, die eine tragische Wendung nimmt - ähnlich wie in "La Boheme. Übrigens auch mit unglaublich berührender Musik, die keine Scheu vor Emotionen kennt. Und auch keine Scheu davor, eine Geschichte zu erzählen, die sich mit Individuen beschäftigt.
Angelika Kirchschlager, die die Wiener Erstaufführung und viele der Folgevorstellungen singen wird, war schon bei der Londoner Uraufführung dabei, die von Trevor Nunn inszeniert und von Sir Simon Rattle dirigiert wurde. Damals war Englisch die Aufführungssprache. In der Volksoper Wien setzt man nun auf einen Mix aus Englisch und Deutsch.
"The Bitter Tears of Petra von Kant"
Als hochoktanig wurde die Musik von Gerald Barry empfunden, als seine Rainer-Werner-Fassbinder-Oper The Bitter Tears of Petra von Kant" 2002 ausschnittweise beim Huddersfield Festival für zeitgenössische Musik gespielt wurde. Die English National Opera griff zu und sicherte sich für den Beginn der Spielzeit 2005/06 die szenische Uraufführung des kompletten, fünfaktigen Werks. Passend, wo doch die Filmwelt heuer des deutschen Regisseurs, Filmemachers und Autors Fassbinder gedenkt.
"The Bitter Tears of Petra von Kant ist nämlich nichts anderes als die Veroperung von Fassbinders quasi gleichnamigem Filmskript vom Anfang der 1970er. Petra, geschieden mit Kind, Modedesignerin, lernt Karin Thimm kennen. Sie verliebt sich in Karin, baut sie zum Model auf. Karins Gesicht ziert die Titelseiten der Zeitschriften. Dann verlässt sie Petra, Petras Fassade bröckelt. Sie leidet - leidet wie Marlene, ihre Bedienstete, die von Petra seit Jahren gnadenlos ausgebeutet und gedemütigt wird, aus bedingungsloser Liebe aber alles erduldet.
Sehnsucht nach dem wahren Leben
Soll dieser Stoff tatsächlich schon über 30 Jahre alt sein? Wie gut passt er in die Welt heutiger Ikonen der Mode- und Designerwelt. Der schöne Schein, die polierte Oberfläche sind Gesetz. Der Griff zu Flasche und Tabletten soll nicht ausgelebte Gefühle ersetzen, denn die Sehnsucht nach dem wahren Leben ist unstillbar.
Margit Carstensen, Hanna Schygulla, Eva Mattes haben mitgespielt in Rainer Werner Fassbinders Film von damals. Die Carstensen erzählt, dass sie lange nicht dahinter gekommen ist, dass Fassbinder eigentlich eine Männergeschichte erzählen wollte, eine schwule Männergeschichte, aber getarnt in lesbischer Verkleidung.
Strange und erstaunlich
Vielleicht hat Regisseur Richard Jones an der English National Opera deshalb geglaubt, aus der Geschichte, die Fassbinder durchgehend rund um ein Bett ansiedelt, eine grelle Farce um eine komische Alte machen zu müssen. Davon erzählen zumindest die Standfotos, die man von der Produktion geliefert bekommt.
Oder ist er von Gerald Barrys Musik dazu angeleitet worden, die über weite Strecken martialisch dahinhämmert und selten zu intimem Gefühlsausdruck findet? Trotz dieser Einschränkungen sind "The bitter tears of Petra von Kant von der britischen Presse zwar einerseits als strange, andererseits aber auch als eine der erstaunlichsten Opern-Novitäten der letzten Zeit empfunden worden.
Veranstaltungs-Tipp
Nicholas Maw, "Sophies Choice", 26. Oktober 2005, 19:00 Uhr, Volksoper Wien
Links
ENO
ENO - Petra von Kant
Fassbinder Foundation
Volksoper Wien