Rätsel Legasthenie - (teilweise) gelöst
Buchstabensalat und Zahlenbrei
Rund fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen leiden an Legasthenie, ähnlich viele an Dyskalkulie bzw. Rechenschwäche. Für die Betroffenen und ihre Eltern oft der Beginn eines langen Leidensweges bis zur richtigen Diagnose und Therapie.
8. April 2017, 21:58
Der Begriff Legasthenie, 1916 vom Budapester Neurologen Paul Ranschburg geprägt, schien lange Zeit geradezu geheimnisumwittert. Unzählige Theorien darüber kursierten, unüberschaubar ist auch das Therapieangebot.
In den letzten Jahren gab es in der Grundlagenforschung entscheidende Durchbrüche, so dass heute verlässliche Diagnoseinstrumente und wirksame Therapien zur Verfügung stehen - während die Forschung zur Dyskalkulie noch zurückhinkt.
Schreiben wie es sich (ge)hört
Im Zentrum der Legasthenieforschung stehen seit Anfang der 1990er Jahre minimale Störungen der akustischen Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache, die im Alltag nicht auffallen, aber es Legasthenikern schwer machen, die Sprache in Laute zu zerlegen und diesen Buchstaben zuzuordnen - wie es beim Erlernen einer Lautschrift notwendig ist.
Mängel dieser "Phonem-Graphem-Korrespondenz" verursachen die mehr oder weniger ausgeprägten, charakteristischen Fehler im Lesen und Schreiben: stark entstellte Wörter, hohe Fehlerzahlen bei Diktaten trotz regelmäßigen Übens, Schwierigkeiten beim Zusammenlauten einzelner Buchstaben zu Wörtern ("a-u-t-o" statt "Auto") und mühevoll lange Lesezeiten - Harry Potter wird zur Qual statt zum Genuss.
"Erst einmal abwarten" - der schlechteste Rat
Im Dezember 2004 ließen die Ergebnisse der letzten PISA-Studie aufhorchen: ein Fünftel aller österreichischen Schülerinnen und Schüler hat am Ende der Pflichtschulzeit massive Schwierigkeiten beim Erlesen einfacher Texte.
Diese - erschreckend große - Gruppe scheint auch zu spät erkannte und zu wenig geförderte leseschwache (bzw. legasthene) Kinder und Jugendliche zu enthalten. Arbeitsgruppen um die Psychologen Christian Klicpera (Universität Wien) und Heinz Wimmer (Universität Salzburg) haben in Längsschnittstudien gezeigt, dass Lese-Rechtschreibschwäche nicht von selbst vergeht - auch fachgerechte Therapie braucht viel Zeit und geht nicht ohne Mühe.
Doch je früher damit begonnen wird, desto schneller lässt sich der Anschluss an den Unterricht wieder finden und desto weniger leidet die Motivation.
Diagnose Legasthenie - und dann?
In den letzten Jahren wurden standardisierte, normierte Tests zur Erfassung leseschwacher Schüler entwickelt und angewendet: in der dritten Klasse Volksschule und auch in der fünften Schulstufe wird bundesweit das Salzburger Lesescreening SLS durchgeführt. Schulpsychologen leisten nähere Abklärung.
Wünschenswert wäre allerdings eine noch frühere Erkennung von Risikokindern - wie sie prinzipiell schon in der ersten Klasse und (etwas weniger zuverlässig) im Vorschulalter möglich ist. Doch was dann? Die Schule kann schwache Leser und Rechtschreiber kaum individuell fördern, zeigen Evaluationen. Auf dem "freien Markt" sind seriöse und weniger seriöse Therapien für Eltern nicht leicht zu unterscheiden.
Hilfe auf wissenschaftlicher Grundlage
Der Münchener Kinderpsychiater Waldemar von Suchodoletz fasste Überprüfungen der gängigsten Leserechtschreibtherapien zusammen. Ernüchterndes Fazit: ein großer Teil der angebotenen Therapien ist nicht erwiesenermaßen wirksam.
Therapie von Lese-/Rechtschreibstörungen auf wissenschaftlicher Grundlage vermittelt dagegen der erste österreichische Universitätslehrgang in Salzburg. Die Ausbildung umfasst den aktuellen Stand in der Grundlagenforschung, Diagnostik und wirksame Therapiemethoden - aber auch die Arbeit mit Eltern und Schule. Wermutstropfen: für die Therapiekosten gibt es (noch) keine Zuschüsse etwa durch Krankenversicherungen.
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendungen der Woche gesammelt jeweils am Donnerstag nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipps
Christian Klicpera/Alfred Schabmann/Barbara Gasteiger-Klicpera, "Legasthenie. Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung", Reinhardt UTB Verlag 2003, ISBN 3825224724
Petra Küspert, "Neue Strategien gegen Legasthenie" (besonders leicht lesbare Einführung für Eltern), Oberstebrink Verlag 2004, ISBN 3934333125
Gerd Schulte-Körne, "Elternratgeber Legasthenie. Frühzeitig erkennen, optimal fördern, gezielt therapieren", Knaur 2004, ISBN 3426641372
Waldemar von Suchodoletz (Hrsg.), "Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS). Traditionelle und alternative Behandlungsmethoden im Überblick", Kohlhammer Verlag 2003, ISBN 3170175300
Links
schulpsychologie.at - Informationen über Lese-Rechtschreibschwäche der Schulpsychologie
legasthenie.sbg.ac.at - Universitätslehrgang: LRS-Therapie
lernfoerderung.de - Tipps bei Lernproblemen
Akademische Lese-Rechtschreib-TherapeutInnen