Wer hat bloß die Engel aus der Welt verbannt?
Paradies verloren
Eine junge Frau, die zunächst die Hölle auf Erden erlebt und dann aufbricht, um das Paradies zu suchen. Alma lautet der Name der Brasilianerin deutscher Abstammung. Und sie ist die Heldin in Cees Nootebooms neuen Roman "Paradies verloren".
8. April 2017, 21:58
Die Geschichte beginnt mit einem Schock. Eines Abends verlässt Alma ihr sicheres Elternhaus zu einer ziellosen Fahrt durch ihre Heimatstadt Sao Paolo. In einer Favela versagt ihr Wagen. Die Folge: eine brutale Vergewaltigung. Um den grauenhaften Erinnerungen zu entfliehen, reist Alma gemeinsam mit ihrer Freundin Almut ans andere Ende der Welt. In Australien, dem Land ihrer gemeinsamen Kindheitsträume, sucht sie die Schatten der Vergangenheit zu bannen. Doch das erwartete, mystische Reich der Aborigines scheint versunken. Die Welt dieser Menschen ist nicht zugänglich. Mit dem angebotenen Tourismus-Programm kann sich Alma nicht zufrieden geben.
Es ist alles zugleich, Poesie, eine komplette Lebensweise. Auf Menschen, die von irgendwoher kommen, wo fast nichts mehr stimmt, wirkt das sehr verführerisch. Doch es ist zerstört, oder zumindest fast. Haben sie danach nicht alle gesucht, nach dem verlorenen Paradies?
Kritik am Literaturbetrieb
Die Vertreibung aus dem vorgestellten Garten Eden kann die Engels-Verehrerin nur hinnehmen: von Australien nach Österreich. Im zweiten Teil seines knapp 150 Seiten umfassenden Romans wechselt Nooteboom unvermittelt nicht nur von der Wüste in die Tiroler Alpen, sondern auch von ausschweifender Poesie zu launiger Ironie.
Erik, ein zynischer Literaturkritiker aus Amsterdam, will im Wellness-Hotel Alpenhof ein paar Kilo abspecken. Hoher Blutdruck, Arthritis und einige andere hartnäckigen Beschwerden machen dem Endvierziger zu schaffen. Nooteboom, der vielfach preisgekrönte Schriftsteller, nutzt diese Phase der inneren Reinigung seiner zweiten Hauptfigur auch, um die eigene aufgestaute Kritik am Literaturbetrieb anzubringen.
Literatur war ein Beruf geworden. Jeder x-beliebige, der mit Widerwillen Niederländisch studiert hatte, fühlte sich bemüßigt, einen Roman zu schreiben. Die meisterlichen Debüts folgten einander in immer schnellerem Tempo. Er selbst war Mitglied einer Reinemach-Truppe. Unangenehme, aber ebenso unentbehrliche Arbeit.
Noteboom verleiht Flügel
Erst die sanften Hände der Masseuse bringen den zornigen Literaturkritiker wieder auf angenehmere Gedanken und führen ihn zurück in eine schöne und geheimnisvolle Vergangenheit. Denn die ihn Knetende ist Alma und er kennt die junge Dame sogar schon. Sie ist ihm bei einem Kulturfestival in Australien in Engelsgestalt erschienen.
Auf dieses Gesicht wäre er noch Tage zu warten bereit gewesen. Doch es zu beschreiben würde ihm nie gelingen - klar und getrübt zugleich, offen und verschlossen, herausfordernd und in sich gekehrt.
Cees Nooteboom, der Großmeister der niederländischen Literatur, legt mit seinem neuen Roman, knapp 50 Jahre nach dem Erscheinen seines ersten, einen weiteren, beeindruckenden Beweis seiner blühenden Fantasie, leichtfüßigen Poesie und sanften Ironie vor - wenn's denn eines Beweises noch bedurft hätte. Ein schmaler Band, der wahrlich Flügel verleiht.
Buch-Tipp
Cees Nooteboom, "Paradies verloren", aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, Suhrkamp Verlag