Aufarbeitung der Vergangenheit
Chronik einer Nacht
Der schmale Roman "Chronik einer Nacht" von Reinhard Federmann ist ein bemerkenswertes Beispiel für die frühe Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs: eine Heimkehrergeschichte, die im Wien des Jahres 1948 spielt.
8. April 2017, 21:58
1950 brachte die Arbeiter-Zeitung - in Fortsetzungen - den Roman "Chronik einer Nacht" von Reinhard Federmann heraus. Es ist eine Heimkehrergeschichte, die im Wien des Jahres 1948 spielt. Im Mittelpunkt steht ein Ehepaar. Die beiden waren jahrelang voneinander getrennt gewesen, er musste 1938 aus politischen Gründen emigrieren, schlug sich nach Frankreich und England durch, meldete sich dort nach Kriegsbeginn zur Armee, flog Bombenangriffe gegen Nazideutschland. Sie hatte bei ihrer alten, kranken Mutter bleiben müssen, war wegen der Flucht ihres Mannes demütigenden Schikanen ausgesetzt gewesen, hatte unter großem Risiko einem Widerstandskämpfer zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen und musste unter falschem Namen in Wien leben, ständig in Gefahr, von Nachbarn und Bekannten denunziert zu werden.
Da nach Kriegsende alle gegenseitigen Suchmeldungen ergebnislos geblieben waren, hatte jeder der beiden den anderen für tot gehalten. Die zufällige Begegnung an einem Abend ist für beide ein Schock, erst durch lange Gespräche die Nacht hindurch finden sie wieder zueinander.
Schicksale im historischen Kontext
In der nächtlichen Begegnung des Ehepaares werden bei weitem nicht nur die privaten Erlebnisse aufgearbeitet, sondern die individuellen Schicksale in den historischen Kontext gestellt. Der Dialog der beiden ist collageartig um Szenen aus der Zeit ergänzt: vom "braunen" Alltag bis zum dramatischen Kriegsgeschehen.
Federmann lieferte damit etwas, das von der österreichischen Literatur oft eingefordert, aber selten gegeben wurde: eine klare künstlerische Stellungnahme zu den Geschehnissen. Die Resonanz allerdings blieb gering: Zu Lebzeiten des 1976 verstorbenen Schriftstellers ist der Roman nicht in Buchform erschienen.
Die Ablehnung aller totalitären Regimes und die entschiedene Gegnerschaft zu Faschismus und Nationalsozialismus waren prägend für Reinhard Federmann und kennzeichnend für sein literarisches Werk. Bereits 1946 erschienen erste Texte, in denen sich Federmann mit der jüngsten Vergangenheit auseinander setzte - und damit vielfach auf Ablehnung stieß.
Vorgänger des Herrn Karl
Verstehen Sie. Politik geht mich nichts an. Sollen die Großkopferten miteinander ausschnapsen. Der kleine Mann ist ohnehin immer der Betupfte. Da brennen sie einem eine Sühneabgabe auf. Die Verbrecher! Für was, möcht ich wissen.
Schaun Sie, ich war ein winziger SA-Führer, das ist alles. Ist das schon was? Die SA war doch ein ganz ziviler Verein. Was haben wir schon gemacht? Aufmärsche und fürs Winterhilfswerk gesammelt. Sollen das vielleicht Verbrechen sein?
Eine Figur aus Federmanns "Chronik einer Nacht": ein Fahrradhändler, vor kurzem noch strammer Nazi, der aber jetzt von all dem nichts mehr wissen will, in seinem Geschäft sitzt, vor sich hin monologisiert. Ein Vorläufer des Herrn Karl, und bestimmt wurde Helmut Qualtinger später in der Gestaltung seiner legendären Rolle von dieser Figur beeinflusst, meint Dorothea Löcker. Denn Qualtinger kannte das Werk, gehörte er doch zum Freundeskreis von Reinhard Federmann.
Umfangreiches Oeuvre
1959 veröffentlichte Reinhard Federmann den Roman "Das Himmelreich der Lügner", der als sein Hauptwerk gilt und in dem er sich mit den Ereignissen des Jahres 1934 auseinandersetzte. Zu seinem umfangreichen literarischen Oeuvre gehören aber auch weitere Romane, Erzählungen und Hörspiele. Eines der letzten Projekte von Reinhard Federmann war die Literaturzeitschrift "Die Pestsäule", die er von 1972 bis zu seinem Tod als Herausgeber betreute. Am 29. Jänner 1976 starb er, knapp 53-jährig, in Wien.
Buch-Tipp
Reinhard Federmann, "Chronik einer Nacht", Picus Verlag, ISBN 3854524854