Erinnerungen von Anton Partl
1945 - Die zweite Heimat Schweiz
Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".
8. April 2017, 21:58
In St. Gallen wurde ich von der örtlichen Fürsorgerin in Empfang genommen und mit dem "Trogenerbähnli", einer Straßenbahn ähnlichen Lokalbahn, zu meinen Pflegeeltern nach Speicher gebracht. Speicher ist ein Ort, zirka acht Kilometer südlich von St. Gallen, im Kanton Appenzell Außerrhoden. Trotz der Nähe zu St. Gallen war der Ort noch sehr landwirtschaftlich geprägt und hatte damals rund 2.000 Einwohner. Das bedeutete, dass praktisch jeder jeden kannte. Für ein Wienerkind natürlich eine ganz andere Welt.
Meine Gastfamilie namens Schmid hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner eigenen. Die Altersstruktur war analog wie bei uns, nur waren alle um zirka sieben Jahre älter. Da gab es die Eltern; der älteste Sohn Jakob war mit seinen 27 Jahren bereits verheiratet mit einer Frau namens Nelly; der um drei Jahre jüngere Hans war ein Problemsohn, und die 17-jährige Elsbeth war als Nachzüglerin genau so alt wie meine Schwester Elli. Das Haus war ein typisches Appenzeller Holzhaus, bereits von der vorigen Generation Schmid geerbt.
Ich wurde sofort als vollwertiges Familienmitglied aufgenommen und sagte daher auch "Vater" und "Mutter". Mutter nahm mich zu sich in ihr Schlafzimmer und herzte mich wie eine leibliche Mutter.
Meine Ankunft fiel auf den 6. Dezember und Mutter beschenkte mich bereits, als "Klaus" verkleidet (so sagt man in der Schweiz zum "Nikolo"). Es war wie daheim.
Ich habe immer verglichen, was ist hier wie daheim, was ist anders. (Ich mache das auf Reisen heute noch so.) Mit Ähnlichkeiten bekämpfte ich mein aufkommendes Heimweh.
Da war beispielsweise der gleiche "Minerva"-Radioapparat wie in Wien, die Form des Beschenkens durch den Nikolaus, das Feiern des Heiligen Abend, das Beten mit mir beim Zu-Bett-Gehen. Es gab ein Klavier wie daheim, worauf Elsbeth wie Elli spielte, und sie war für mich überhaupt wie meine große Schwester. Die verschneite Winterlandschaft übte auch eine Faszination auf mich aus, die dem Heimweh entgegenwirkte.
Natürlich bemerkte ich den gewaltigen Unterschied im Lebensstandard. Es war kein Thema, wo das "tägliche Brot" hergenommen werden soll, in der gemütlichen Stube war der Kachelofen immer warm, elektrischen Strom gab es rund um die Uhr, und in der Küche gab es einen Warmwasserboiler. Selbstverständlich gab es Telefon; nur wenige, als recht arm geltende Dorfbewohner hatten keinen Telefonanschluss. Alles Dinge von denen man im damaligen Wien nicht einmal träumen konnte. Auch vor Kriegsende hatten nur ganz wenige, privilegierte Haushalte Telefon.
Besonders beeindruckt hat mich der Christbaum am Heiligen Abend. Neben vielen lebenden Kerzen strahlte eine Menge elektrischer Kerzenlampen. In Wien war das natürlich unbekannt, und ich erinnere mich, wie im Krieg die Christbäume von Jahr zu Jahr dürftiger wurden. Zu Weihnachten 1943 hatte der Baum noch zwölf Kerzen, 1944 nur mehr sieben, und das waren sicher bereits angebrannte Stummeln. Als Weihnachtsgeschenk bekam ich eine von Elsbeth vererbte Puppenstube und eine Batterie mit Lämpchen. Damit konnte ich die Stube beleuchten, oder vor dem Fenster die Sonne aufgehen lassen. Ich war von solch einem tollen "Christkindl" fasziniert.
Gleich nach meiner Ankunft wurde am 7. Dezember ein Brief nach Wien geschrieben. Mit buchhalterischer Genauigkeit registrierte mein Vater den Erhalt in Wien, am 18. Januar 1946. Der lange Postweg ist sicher nicht nur mit der schlechten Verkehrsverbindung zu erklären, sondern durch die Zensur, die jedes von und nach Österreich gesendete Poststück durchlaufen musste.
Ich glaube, trotz der Nähe zur Stadt St. Gallen und auch zur österreichischen Grenze, war Speicher und der ganze Kanton Appenzell damals eine kleine, abgeschlossene Welt, in der man kaum über den Zaun blickte. In Anspielung an das Märchen Schneewittchen, sage ich boshafter Weise heute noch: "Aber im Appenzellerland, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen
"
Dazu kleine Kostproben, die mir damals als Kind bereits aufgefallen sind: Gleich nach meiner Ankunft im Hause Schmid, kamen mehrere (ältere?) Frauen, um den "Österreicherbub" zu beäugen. Die ersten Worte die ich auf "Schwyzerdütsch" dabei aufschnappte, war die Frage an Mutter: "Kann er Dütsch?" Und diese antwortete: "Nei, er kann nüd Dütsch." Völlig verunsichert dachte ich: Hieß das nicht soeben ich könne nicht Deutsch? Dabei hatte ich noch vor gar nicht so langer Zeit das "Deutschlandlied" gesungen.
Einmal fragte mich Mutter, ob es in Österreich wohl auch Straßen mit Kurven gäbe. Sie dachte offensichtlich, hinter der Schweizer Grenze erstrecke sich nur endlose Ebene.
Elli besuchte mich einmal mit einer Schulfreundin, weil sie in der Schweiz ein Praktikum absolvierte. Da fragte Elsbeth, als sie die beiden Wienerisch reden hörte: "Versteht ihr euch überhaupt in solch einer komischen Sprache?"
An meinem neunten Geburtstag glaubte Mutter mir eine Freude zu machen, indem sie mir zum Frühstück ein besonders großes, mit recht viel Butter und Marmelade beschmiertes Brot richtete. Dass mein Magen auf kleinste, fettarme Essensmengen eingestellt war, war ihr nicht bewusst. Ich blieb lange beim Riesenbrot sitzen, da ich fürchtete, sie würde es als Undankbarkeit auslegen, wenn sie das Brot ungegessen abservieren müsste.
Wie fremd "meinen" Schweizern die Wiener Welt damals war, ersehe ich aus Fragen nach diversen Alltagsgegenständen. Etwa ob wir Dinge hätten, wie Vaters elektrischen Rasierapparat, eine Wäscheschleuder (etwas später auch eine Drehkreuzwaschmaschine), Warmwasserboiler, Telefon etc.? Wahrscheinlich hat sie mein staunender Blick zu diesen Fragen veranlasst. Es waren schließlich Dinge, von denen wir in Wien noch zehn Jahre später bestenfalls träumen konnten. Ich glaube, ich habe aus Scham manchmal ja gesagt. (...)
Durch die Verlängerung meines Aufenthaltes wurde ich auch zusehends mit kleinen Arbeiten im Haushalt betraut - für mich eine Situation, die ich von daheim nicht kannte. Ich empfand dies jedoch keineswegs belastend, sondern im Gegenteil: Es schmeichelte mir und hob mein Selbstbewusstsein. Wenn Mutter das Geschirr abwusch, war ich allein für das Abtrocknen des Bestecks zuständig. Jeden Samstag wurde das Haus durchgeputzt, und ich habe dabei die Teppiche geklopft. Bei Schneelage wurden sie auf dem Schnee aufgelegt, und es hat mich begeistert, wenn dieser nach dem Klopfen schwarz war.
Nun schickte man mich häufig auf Botengänge. Ich ging oft einkaufen, wobei mir der Unterschied zu den Wiener Einkaufsgewohnheiten aufgefallen ist. Mutter selektierte genau, was wo am günstigsten zu kaufen ist. Geld spielte im täglichen Leben eine sehr große Rolle. Im damaligen Wien hingegen überhaupt nicht. Bedingt durch die Mangelwirtschaft war Geld kein Äquivalent zu Waren. In der Schweiz hörte ich mehrmals am Tag das geflügelte Wort "das kostet auch".
In den Geschäften war man hingegen in ungewohnter Weise um Kundschaft bemüht. Wenn man als Kind etwas beim "Metzger" kaufte, wurde man gefragt, ob man ein "Rädli" wolle, dann bekam man ein Wursträdchen. Beim Bäcker wurde man mit "Krömli" (Keks) beschenkt und im Lebensmittelgeschäft mit "Guetzli" (Zuckerl). Gewichtsangaben waren vielfach (nicht immer) in Pfund. Brot war der Größe nach von Pfund zu Pfund gestaffelt. Das Größte war der "Fünfpfünder".
Oft wurde ich auch zur Post geschickt. Es waren immer viele Briefe und Pakete aufzugeben. Wenn mich Nelly schickte, sagte sie als besondere Vergünstigung: "Darfst mein 'Velo' nehmen." Nelly und Jakob hatten nämlich damals schon Dreigangräder. In Österreich kannte man so etwas erst Jahre später. Normalerweise benützte ich Elsbeths alten "Gaul". Besonders paradiesisch kam mir vor, dass man sein Rad, wo auch immer, stehen lassen konnte ohne abzusperren. Auch die Häuser waren grundsätzlich unversperrt. Den Begriff Diebstahl kannte man nicht.
Einmal wurde irgendwo in der Ostschweiz ein Kapitalverbrechen begangen. In den Nachrichten hieß es, der Täter sei in einem roten Auto geflüchtet. Ganz Speicher lief bei jedem Motorengeräusch zu den Fenstern, um zu schauen, ob es nicht das rote Auto sei.
Milch bekamen wir durch einen Bauern zugestellt, der sie mit einem von einem Bernhardinerhund gezogenen Wägelchen ausführte. Er füllte allmorgendlich die im Hausflur stehenden Krüge. (...)
Die Rückfahrt nach Wien fiel mit dem Beginn der Sommerferien 1946 zusammen. Daheim registrierte ich, dass es in der Wohnung wieder heller war, als vor meinem Schweizaufenthalt. Ein Großteil der zerbrochenen Fensterscheiben war ersetzt. Allerdings nicht durch neue Scheiben, sondern durch aneinander gestückelte Glasstreifen; so groß war noch immer der Glasmangel.
Dieses Jahr daheim sollte ich als Zeit vieler Gesundheitsprobleme erleben. Die ganze Familie hatte Furunkulose, offensichtlich die Folge ungenügender, ungesunder Ernährung. Besonders arg erwischte es Mutter, die an sich eine sehr robuste Körperverfassung hatte. Die Behandlung erfolgte, abgesehen von der äußerlich angewendeten "Ichthiol-Salbe", mit gewöhnlicher Backhefe. Diese wurde in Wasser gelöst getrunken. Antibiotika gab es ja noch nicht.
Auch die in unserer Familie und im Bekanntenkreis rasch um sich greifenden Zahnprobleme standen sicher mit der ungesunden, unzureichenden Ernährung im Zusammenhang.
Ich bekam weiters Asthma und litt unter starker Atemnot. Im Zuge eines Erstickungsanfalles erinnere ich mich, wie Vater aufgeregt ausrief: "Mutter, Mutter, er erstickt uns!"
Da ich immer wieder Fieberschübe bekam, hieß es: Der Blinddarm muss heraus. Damals noch eine Prozedur mit mindestens einer Woche Krankenhausaufenthalt. Die Narkose erfolgte mittels "Ätherrausch". Beim Erwachen bekam man schreckliche Brechanfälle. Ich lag in einem Zimmer, gemeinsam mit vielen alten Männern. Im Nachhinein erzählte mein Operateur, dass es während meiner Operation einen Stromausfall gegeben und er mich mit Hilfe einer Taschenlampe weiter operiert hatte. Notstromaggregate gab es damals nicht.
Noch so ein Narkoseerlebnis hatte ich um diese Zeit, als ich an Mittelohrentzündung erkrankte. Ich hatte bereits eine beginnende Gehirnhautentzündung und der HNO-Arzt kam unvermittelt auf Hausbesuch. Er sagte, er müsse sofort das Trommelfell öffnen. Der Küchentisch wurde zum Operationstisch, und der Arzt gab mir eine Äthernarkose, wobei als Maske ein Taschentuch diente. Heute berichten allenfalls die "Ärzte ohne Grenzen", dass sie in der Dritten Welt auf diese Weise arbeiten.
Im Briefverkehr mit der Schweiz hatten meine Eltern offensichtlich meine Gesundheitsprobleme geschildert. Dies führte dazu, dass ich wieder in die Schweiz eingeladen wurde. (...)
Am St. Gallener Bahnhof empfing mich Mutter Schmid herzlich mit offenen Armen und fuhr mit mir, mit dem "Tram" nach Speicher. Ich war quasi wieder daheim. In der Familie hatte es insofern Veränderungen gegeben, dass Hans nicht mehr im Haus war und Nelly und Jakob einen vier Monate alten Buben namens Heinz hatten.
Ich schlief nicht mehr in Mutters Schlafzimmer, sondern "erbte" als nun großer Bub, Elsbeths Kammer. In Bezug auf den kleinen "Heinzli" übertrug man mir die ehrenvolle Aufgabe, seine "Kindsmagd" zu sein. Bei der großen Sympathie, die ich für das Kind empfand, kam mir das sehr entgegen. (...)
Ich war sofort wieder in das Alltagsleben integriert. Das äußerte sich darin, dass ich mehr Botengänge machte als bei meinem ersten Aufenthalt; aber ich hatte auch mehr Kontakt mit der Dorfjugend und flanierte schon selbstständig im Dorf herum.
Ich musste gleich nach dem Ende der Sommerferien zur Schule. Weil diese in der Schweiz viel kürzer sind, war das bereits am 11. August. Lehrer Niggli stellte mich der Klasse mit den Worten vor: "Seht her, der Toni aus Wien ist wieder bei uns." Damit fühlte ich mich gleich als vollwertiges Mitglied der Klassengemeinschaft. Am nächsten Tag brachte mir ein Mädchen eine Tafel Schokolade als Begrüßungsgeschenk. (...)
Ich glaube, ich war ein problemloses Gastkind. Offenbar war ich so ruhig und brav, dass Elsbeth sich einmal über mich äußerte, ich könne doch nicht ganz normal sein. Das ist doch kein rechter Bub, der nie etwas anstellt. Einmal gelang es mir jedoch diesen Ruf zu durchbrechen. Ein Neffe der Eltern, namens Karl, war in meinem Alter. Wir waren gemeinsam in der Klasse und spielten öfter zusammen. In meiner Funktion als Kindsmagd des kleinen Heinzli, sollte ich diesen im Kinderwagen spazieren fahren. Da kam ich auf die Idee, mich verkehrt auf den Gepäcksträger von Karls Fahrrad zu setzen und den Kinderwagen hinten nachzuziehen. Besonders lustig fanden wir, auf diese Weise Achter zu fahren. Dabei schleuderte der Kinderwagen so schön. Diese Szene beobachtete eine Dorfbewohnerin und rief Mutter an. Daheim gab es ein Riesendonnerwetter. Es war das einzige Mal, dass ich von Vater eine (wenn auch leichte) Ohrfeige bekam. Dabei fand der kleine Heinzli, der gerade sitzen konnte, die Sache auch lustig.
Bei diesem zweiten Schweizer Aufenthalt machte ich, körperlich und sozial, einen außerordentlichen Entwicklungsschub. Ich war völlig gesund und so kräftig, dass ich mich, im Gegensatz zu früher, nicht mehr vor Raufereien mit stärkeren Buben fürchtete.
Mutter berichtete über meine gute körperliche Verfassung nach Wien, und mein Vater bedankte sich immer wieder brieflich und später auch persönlich für meine gute Aufnahme bei der Familie Schmid. Diese Dankbarkeit war seitens meiner Eltern wirklich aufrichtig und tief empfunden. Als es hieß, ich werde wieder heimgeschickt, hatte ich an Wien und meine Familie nur mehr sehr vage Erinnerungen. Ich glaube, ich hätte es, zumindest damals, ohne weiteres verkraftet, wenn man mir gesagt hätte: Du bist jetzt Schweizer und bleibst hier.
Anton Partl, 1937 in Wien geboren, fuhr mit dem zweiten Wiener Rotkreuz-Kindertransport am 5. Dezember 1945 vom Franz-Josefs-Bahnhof nach St. Gallen.
Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.
Buch-Tipp
Anton Partl, Walter Pohl, "Verschickt in die Schweiz. Kriegskinder entdecken eine bessere Welt", Böhlau Verag, ISBN 3205774264
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Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen