Joyces "Ulysses"

Der irische Odysseus

Der 16. Juni 1904 ist der Tag der Abenteuer des Leopold Bloom, der die Straßen Dublins durchstreift. Oder ist es doch nur ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben des Anzeigen-Akquisiteurs? Fans in aller Welt begehen am 16. Juni den "Bloomsday".

Leopold Bloom frühstückt - so im Roman "Ulysses" -, holt seine Post unter der Chiffre "Henry Flower" ab, besucht das Begräbnis seines Bekannten Dignam, arbeitet ein wenig, geht zum Lunch ins Pub, beteiligt sich in der Bibliothek zufällig an einer Diskussion über Shakespeare, schreibt einen Liebesbrief, wird von einem Antisemiten attackiert, betätigt sich als Voyeur am Strand, erlebt wüste Szenen im Bordell, strolcht mit Stephen Dedalus durch die Nacht und landet am Ende wieder im Bett bei seiner Frau Molly.

Eine eintägige (und alltägliche) Odyssee, die zu schildern James Joyce in seinem Roman "Ulysses" mehr Worte brauchte als Homer, um die jahrelangen Irrfahrten des Odysseus darzustellen. Doch der moderne Autor konnte sich in seinen Schilderungen nicht mehr auf die Kenntnisse des Publikums verlassen wie Homer vor 2.700 Jahren. Der erzählte eine allgemein bekannte Geschichte, indem er sie detailreich ausschmückte.

Alltag als Irrfahrt

Auch James Joyce fabuliert ausführlich und bunt, jedoch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Er schlüpft sogar in die Gedanken der Personen (protokolliert deren "inneren Monologe"), lässt sie ihre Klischees aussprechen - und zersetzt diese in unzähligen Nebenbemerkungen. Die Erzählung findet auf mehreren sprachlichen Ebenen statt. Und was eben so "zur Sprache" kommt, kann jeder Leser je nach persönlicher Disposition anders verstehen: als Abenteuergeschichte im Dschungel "moderner Zeiten", als enervierend kleinteilige Schilderung des Alltags, als gesellschaftskritische Attacke auf das Kleinbürgertums, als Parodie auf das Epos von Homer, als philosophiekritischen Versuch über die abendländische Zivilisation und einiges mehr.

Weil alles offen bleibt und keine Absicht des Autors erkennbar ist, der sein Publikum nicht bevormundet, löste der Roman "Ulysses" bei seinem Erscheinen 1922 Unruhe aus, wurde gleich in vielen Ländern zensuriert, auf den Index gesetzt, im gesamten Commonwealth (!) verboten. In den USA gab es bis in die 1950er Jahre ein Einfuhrverbot.

Aber die Verunsicherung entstammt vermutlich eher der Vielschichtigkeit der Handlungsabläufe, aus den Zeitbrüchen und dem ständigen Wechsel der sprachlichen Stile, die bei unterschiedlichem Lesetempo verschiedene Sprachmuster erscheinen lassen, so wie der Einfallswinkel des Lichts immer neue Farbmuster eines Moiré-Stoffes aufleuchten lässt.

Der "Bloomsday"

Nichts ist fix im "Ulysses", die Einheit von Zeit und Ort zerbrochen - trotz der einzig genauen Angabe: Dublin, 16. Juni 1904, von 8:00 Uhr morgens bis 2:00 Uhr früh!

Gerade diese minimale Konkretisierung wird aber gehörig ausgenützt im "Bloomsday"“, der in Dublin inzwischen zum touristischen Höhepunkt des Jahres wurde.

1927, nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Romans durch die Buchhandlung Shakespeare & Co. in Paris, begaben sich die ersten Literaturbegeisterten am 16. Juni auf einen Pilgerzug zu den beschriebenen Örtlichkeiten, um sie zur jeweils angegebenen Zeit zu besuchen. Seit 1954 ist der "Bloomsday" Tradition in Dublin.

1963 proklamierte Bazon Brock in Frankfurt den "Bloomsday" und gab eine Bloom-Zeitung heraus (provokant im Erscheinungsbild der "Bild"-Zeitung).

1967 rief Rolf Schwendter mit hektografierten "Mitteilungen an den Freundeskreis" Künstler und Intellektuelle in Wien auf, die 18 Stationen des "Ulysses" im Laufe des Tages aufzusuchen, etwa an einem Begräbnis am Zentralfriedhof teilzunehmen, bei dem die Hinterbliebenen wohl über die unerwartet große Zahl von Trauergästen erstaunt waren.

Musik für Leopold Bloom

Im Roman "Ulysses" spielt Musik eine bedeutende Rolle. Von Mozart bis zu Liedern aus dem Pub werden Musikstücke erwähnt, tauchen wie Leitmotive auf, die sich der Leser dazu imaginieren muss.

James Joyce, der musikbegeistert war und gerne seinen Gesang auf der Gitarre begleitete, verfasste in den Jahren von 1902 bis 1906 (also rund um den Zeitpunkt der Handlung seines Romans "Ulysses"), den Gedichtzyklus "Chamber Music", der mit den Worten beginnt: "Strings in the earth and air make music sweet". Gut zwei Dutzend Mal wurden diese Verse vertont, unter anderen von Hermann Reutter, Luciano Berio und dem Norma Winstone Trio. 1983 erschien in Wien das Album "To James Joyce" des Geigers Paul Fields und des Saxofonisten Fritz Novotny, deren Improvisationen die kulturellen Traditionen, die in den Handlungen des "Ulysses" aufeinanderprallen (irische Lieder, jüdische und ungarische Volksmusik, operettenhafte Zitate und die Atonalität zur Zeit der Entstehung des Romans) wie in musikalischen Dialogen (vielleicht zwischen Bloom und Dedalus) reflektieren.

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Carol Loeb Shloss, "Lucia Joyce. Die Biografie der Tochter", Knaus Verlag, ISBN 978-3813502572