Das Bewusste nach dem Unbewussten

Mind Time

Unser subjektives Bewusstsein ist das, was uns Menschen am wichtigsten ist. Doch wir wissen relativ wenig davon. Zu dem bisschen, was wir über Bewusstsein und freien Willen wissen, hat Benjamin Libet Wesentliches beigetragen.

In den 1970er Jahren ließen Ergebnisse der Experimente von Benjamin Libet, die den Beweis zu liefern schienen, dass der freie Wille nicht existiert, aufhorchen. Mittels raffinierter Versuchsanordnung konnte Benjamin Libet genau bestimmen, wann im Gehirn die Aktivität von Nervenzellen beginnt, die einer Handlung, zum Beispiel dem Bewegen der Hand vorausgeht, und ab welchem Zeitpunkt sich der handelnde Mensch der Absicht, zu handeln, bewusst ist - ab wann er bewusst denkt, seine Hand heben zu wollen. Das ließ für viele den Schluss zu, der freie Wille sei eine Illusion.

Dieser Interpretation seines Experiments kann sich Benjamin Libet nicht anschließen. Wenn eine Handlung schon unbewusst beginne, so könne man sich zumindest noch bewusst gegen sie entscheiden, argumentiert er, es gäbe eine Art bewusster Veto-Möglichkeit gegen eine unbewusst getroffene Entscheidung.

Determinismus versus Willensfreiheit

Benjamin Libet selbst war es, der die Diskussion um Determinismus versus Willensfreiheit in den Neurowissenschaften ins Rollen gebracht hatte. Ende der 1950er Jahre entwickelte er zusammen mit dem Neurochirurgen Bertram Feinstein Möglichkeiten, Gehirnaktivitäten bei Versuchspersonen sichtbar zu machen. Dabei zeigte sich, dass ein Sinnesreiz zwar sofort eine Reaktion in den Nervenzellen auslöst, es aber eine halbe Sekunde dauert, bis dieser Reiz auch bewusst wird - ein Intervall, das Benjamin Libet "Mind Time" genannt hat.

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Auto unterwegs und vor Ihnen springt ein Kind auf die Straße. Sie bremsen binnen kürzester Zeit abrupt ab, ohne sich vorher explizit der Absicht bewusst zu werden, dass sie nun auf die Bremse treten wollen. Ein Beispiel, das für Benjamin Libet illustriert, was auch seine Experimente zeigen: Bewusste Handlungen werden von unbewussten eingeleitet.

Kreativität kommt aus dem Unbewussten

Unbewusste Gehirnaktivitäten sind für Kreativität im Allgemeinen von essenzieller Bedeutung, meint Benjamin Libet und beschreibt die Entwicklung von neuen und originellen Lösungsvorschlägen als einen fünfstufigen Prozess.

1: Die Frage oder das Problem genau angeben.
2: Relevante Information zu der Frage sammeln.
3: Weitere bewusste Versuche zur Erzeugung einer Hypothese aufschieben
(mit anderen Worten, man soll das Nachdenken über das Problem auf die unbewusste Ebene durchsickern lassen).
4: Auf das bewusste Erscheinen einer geeigneten Lösungshypothese eingestimmt sein.
Und schließlich 5: Eine bewusste rationale Analyse bezüglich dessen durchführen, was am Ende des Bewusstseins aufgestiegen ist, um dessen Nützlichkeit und Gültigkeit zu prüfen.

Überblick über die Fragen der Bewusstseinsforschung

Benjamin Libet hat Pionierarbeit in den Neurowissenschaften geleistet, nicht zuletzt deshalb, weil er darauf beharrte, für jede Idee über Gehirn, Geist und Bewusstsein Experimente zu entwickeln. Nur diese Experimente könnten die Theorien dann bestätigen oder eben widerlegen. Damit würde die alte Diskussion um Determinismus oder Willensfreiheit auch etwa von ihrem Glaubenscharakter verlieren, betont er in seinem Buch immer wieder.

Mit "Mind Time" bietet der 89-jährige Neurowissenschafter eine erste Gesamtschau seines Forschens und Denkens und damit einen soliden Überblick über die brennenden Fragen der Bewusstseinsforschung der vergangenen fünf Jahrzehnte. Zur Geist-Körper-Beziehung lässt er sich gegen Ende seines Buches auch noch auf einen fiktiven Dialog mit Rene Descartes ein, und schlägt zur Erklärung des Zusammenspiels von Geist und Gehirn schließlich ein bewusstes neuronales Feld, vergleichbar einem Magnetfeld, vor. Dieses Feld soll Kommunikation innerhalb der Gehirnrinde ohne neuronale Verbindungen ermöglichen. Das experimentelle Design zur Überprüfung dieser Hypothese hat er auch schon ausgearbeitet. Es wartet nur noch auf seine Ausführung.

Buch-Tipp
Benjamin Libet, "Mind Time. Wie unser Gehirn Bewusstsein produziert", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518584278