Tiefenpsychologische Märcheninterpretationen

Der Tod hat keinen Stachel mehr

Der Priester und Psychoanalytiker Eugen Drewermann hat in seinen tiefenpsychologischen Märcheninterpretationen eine religiöse Tiefendimension erschlossen, die vielen Menschen die christliche Hoffnung verdeutlichen kann.

Eugen Drewermann über den Tod

"Der Tod ist wie ein Skorpion", sagt der Apostel Paulus. "Wen er mit seinem giftigen Stachel sticht, der stirbt. Doch wenn der Skorpion keinen Stachel mehr hat, dann hat er auch keine Macht mehr, dann ist der Tod besiegt".

Wie kann der Tod besiegt werden?

Wer die Fauna des Mittelmeerraumes kennt, hat mit dem Zitat aus dem Brief des Apostels Paulus an die Korinther - zumindest was den Skorpion betrifft - keine Schwierigkeiten. Doch wie kann der Tod besiegt werden?

Für Christen ist die Antwort klar: Wer getauft ist, muss sich vor dem Tod nicht mehr fürchten - denn jeder Christ ist durch die Taufe in Tod und Auferstehung Jesu mit hinein genommen. Die ersten Christen haben daraus großen Mut geschöpft - auch wenn sie genauso wenig wie heutige Theologen ausreichend vernünftig erklären konnten, was Auferstehung ist oder warum der Tod keinen Stachel mehr hat.

Für den Priester und Psychoanalytiker Eugen Drewermann bieten gerade die Märchen einen reichen Schatz an Erfahrungen im Umgang mit dem Tod. Zum Beispiel die Märchensammlung der Gebrüder Grimm zieht er immer wieder heran, um dem Geheimnis der menschlichen Existenz auf die Spur zu kommen.

Keine Kindergeschichten

"Märchen sind keine Kindergeschichten - und schon gar nicht, wenn es um den Tod und die Liebe geht. Märchen sind Parabeln auf das menschliche Leben",

sagt Eugen Drewermann. Ein Märchen wie beispielsweise das vom Fundevogel bewahrt Spuren der uralten Menschheitsüberlieferung auf - Mythen, die lange schon niemand mehr erzählt, die aber im Märchen ihren Niederschlag gefunden haben. Die Geschichte vom Kind, das von den Vögeln geraubt wurde, ist nicht frei erfunden. Dass so etwas immer wieder passiert ist, belegen paläontologische Funde.

Wie man mit dem Tod umgehen kann

Das Märchen vom Fundevogel aus der Sammlung der Brüder Grimm gibt eine symbolische Skizze dessen, wie Menschen mit dem Tod umgehen können. Die Figuren des Märchens stehen für seelische Instanzen des Menschen, sagt Drewermann. Im Märchen vom Fundevogel geht es nicht um eine Geschichte der Liebe zwischen zwei Menschen, sondern um die Integration von Emotion und Verstand.

Die beiden Kinder Lenchen und Fundevogel stehen für Verstand und Gefühl, die Köchin und der Förster für den Tod - so der Psychoanalytiker - und die beiden Kinder, Fundevogel und Lenchen, zeigen, wie man mit dem Tod umgehen kann. Die Flucht vor der Köchin - vor dem Tod - ist ein Bild des menschlichen Lebens, meint der Priester und Psychotherapeut. Zuerst verwandeln sich die beiden in einen Rosenstrauch und in ein Röschen auf dem Strauch - ein Bild der Pubertät, des Erwachens. Doch der Tod - im Märchen in Gestalt der Köchin - kommt noch einmal und noch einmal...

Die Liebe ist stärker als der Tod

Es ist wie im wirklichen Leben. Was immer wir tun - der Tod kommt unweigerlich näher. Das erzählt das Märchen vom Fundevogel. Und zugleich zeigt es, wie man dem Tod entgehen kann. Zum dritten Mal verfolgt die Köchin - die für den Tod steht - die beiden Kinder. Man kann dies dem Alter, der Zeit um die Siebzig, dem letzten Stadium des Menschenlebens zuordnen, wenn man möchte, meint Eugen Drewermann. Die Kinder im Märchen verwandeln sich auf der Flucht vor der Köchin in einen See und die Ente darauf. Die Köchin versucht, den See auszutrinken, doch da kommt die Ente angeschwommen und stößt die Köchin in den See. So findet das Märchen und die Flucht von Lenchen und Fundevogel ein gutes Ende.

Hinter dem Bild vom See steht ein uraltes mythisches Bild, sagt der Tiefenpsychologe. Die Liebe ist stärker als der Tod - dafür steht das Märchen vom Fundevogel. Und wer meint, dass das mit Theologie und der Botschaft von Ostern und der Auferstehung nichts zu tun hat, der irrt, sagt Eugen Drewermann.

Jesus lebte die Liebe

Wir werden sterben, und auch die Menschen, die wir lieben, werden sterben - und vielleicht sogar noch vor uns. Mit der Tatsache der eigenen Endlichkeit angesichts der Unendlichkeit ist jeder Mensch konfrontiert. Es gibt keine Versicherung gegen den Tod, aber es gibt die Möglichkeit einer liebevollen Gemeinschaft bis zum Lebensende. Drewermann dazu:

"Jesus musste die Auferstehung nicht erfinden, er lebte die Liebe, indem er an sie glaubte".

Diejenigen, die frei von Unterdrückung und verantwortlich wie Gottes Kinder leben, brauchen den Tod nicht zu fürchten, denn sie haben ihr Leben nicht verschenkt. Nicht der Alterungsprozess ist zu besiegen, sondern Armut, Unrecht und Teilnahmslosigkeit. Denn erst durch die Liebe der anderen - so Drewermann - erkennen wir unsere Existenz im Sinne eines Lebens, dem der Tod nichts anhaben kann:

"Lernen können wir ein Vertrauen, unsterblich zu sein, einzig nur in einer Liebe, die uns so umfängt und meint, dass wir Gott zutrauen, stärker zu sein als der Tod".

Mehr zu Religionssendungen im ORF in religion.ORF.at

Buch-Tipp
Eugen Drewermann, "Der Herr Gevatter - Gevatter Tod, Fundevogel. Arzt und Tod im Märchen", Walter Verlag, ISBN 3530168696