Die letzte Kunstpfeiferin der Welt

Die spitzen Lippen der Baroness

Sie holte Josephine Baker nach Wien, brachte den Schah von Persien zum Weinen und reiste mit ihrer Show um die Welt: Kunstpfeiferin Baroness Lips von Lipstrill, die im Alter von 80 Jahren einer Grippe erlag. Ö1 widmet der außergewöhnlichen Frau ein Porträt.

Ausschnitt aus "Was bin ich?" mit Lips von Lipstrill

Diese Frau war eine Erscheinung, ein Wirbelwind, voll von Geschichten der unglaublichen Art. Meine Damen und Herren, herzlich willkommen in der Welt des Varietes. Ein Leben lang Bühne, eine Biografie voll erstaunlicher Verwandlungen.

Auftritt der "Baroness" bei einem privaten Fest und immer die selben Reaktionen, die Anwesenden flüstern sich ihr Erstaunen über die imposante Erscheinung zu, blaues Galakleid, blonde Perücke und ein Dekolletee mit Tiefblick. Dann schreitet sie zum Mikrofon - und augenblicklich verwandelt sie eine normale Wohnung in eine Bühne, imaginiert die weite Welt des Showbiz.

Von Berlin bis Manaos

"Ich komme gerade aus London, dort war ich Gaststar mit Gina Lollobrigida, sie als Vertreterin des Films und ich als Vertreterin des Varietes." Offene Münder, die Kinder halten den Atem an, die Atmosphäre verdichtet sich, Jeanette Ups von Upstrill zieht sie alle in ihren Bann.

Virtuos lässt sie wie beiläufig die Stationen ihrer Auftritte fallen, von den großen Häusern in Berlin bis Paris, vor dem Schah von Persien in Teheran, in Tokio oder in der Oper von Manaos. Nicht anders die Reaktionen in den großen Häusern. Die Zuhörer sind verblüfft über das gebotene Spektakel. Und nach dem Konzert konnte es schon passieren, dass sie mit der U-Bahn nach Hause fuhr, allein, in der Hand einen schweren Koffer mit den Kostümen.

Wienerin par excellence

Sie wohnte - nomen est omen - in der Zirkusgasse im 2. Wiener Gemeindebezirk. Sie war eine Wienerin par excellence, geboren in Wallern in Böhmen, am 6. November 1924, als Rudolf Schmidt.

Mit 17 Einberufung in die deutsche Wehrmacht, Stationierung in Udine, Italien, und die Begegnung mit einer verstörenden Wirklichkeit. Das Soldatenleben ist nichts für den zarten Burschen und sexuelle Annäherungen sorgen für so manche Verwirrung. Eine Bauchtyphuserkrankung ist Todesgefahr und Rettung zugleich. Nach Rückkehr in den Heimatort und darauf folgenden Vertreibung der Sudetendeutschen lebte Rudolf in München.

Beginn in Münchner Vorstadt-Variete

Ausgestattet mit der Lust, sich zu verkleiden, ein Talent zum Tanzen und Singen, gepaart mit einer Portion frechen Selbstbewusstseins - so startet der junge Rudolf in einem Münchner Vorstadtvariete seine Karriere als "Damenimitator".

Die Nummer kommt beim Publikum an, bald folgt der Ruf nach Berlin in die "Neue Scala", ein Revuetheater von Weltrang. "Jeanettes" Tanz- und Singnummer wird immer ausgereifter, Auftritte in den führenden Häusern Europas folgen.

Vom Schah engagiert

Bald folgen die ersten Reisen in die Türkei und in den Orient. Und sie reist standesgemäß. In einem riesigen Borgward-lsabella, chauffiert von ihrem Begleiter Sigi, der ihr bei den Auftritten auch als Beleuchter und Seelentröster zur Seite steht.

Bei einem Auftritt im Hamburger "Hansa Theater" ist der anwesende Schah von Persien so begeistert, dass er sie spontan nach Teheran engagiert. Unmittelbar vor ihrem Auftritt im Königspalast verbietet man ihr jedoch den anzüglichen Teil ihrer Verwandlungsnummer. Jeanette, den Tränen nahe, trifft einen Pianistenkollegen aus Wien, der sie aus der Bredouille rettet: "Wir haben dich bei den Proben immer so großartig pfeifen gehört", schlägt er vor, "komm, pfeif ihnen was!" Sie pfeift zum Abschluss der verkürzten "Burleske" Offenbachs "Barcarole" - ein rauschender Erfolg, der Beginn einer neuen Karriere.

Die zweite Geburt

Es folgen viel bejubelte Auftritte in vielen orientalischen Ländern. Ende der 1950er Jahre ist man dort den westlichen Vergnügungen gegenüber aufgeschlossen. Kairo wird 15 Jahre lang eine zweite Heimat für die tanzende Chansonette mit Pfiff.

Nun wird aber auch eine Verwandlung der anderen Art immer akuter, ein seltener Fall von transsexueller Umwandlung macht sich bemerkbar. Und eine Operation unvermeidbar. Am 14. Juli 1964 erlebt Rudolf Schmidt in Kairo seine zweite Geburt, als Frau. Endlich ist der "Damenimitator" am Ziel, schillernd, begehrt, am Höhepunkt der bisherigen Karriere.

Heller-Entdeckung für "Salut"

Doch die Zeit arbeitet gegen Jeanette und die "Kokette" muss schön langsam ans Abdanken als Tänzerin denken. Sie verlegt ihren Lebensmittelpunkt zunehmend nach Wien, conferiert in heimischen Etablissements, bringt die alternde Josephine Baker ins "Renz", wodurch sie den anrüchigen Separees eine niveauvolle Attraktion hinzufügt und perfektioniert ihre letzte Metamorphose.

Kunstpfeiferin in Wiener Tradition

Sie pflegt immer öfter das Metier des "Kunstpfeifens", ganz in der Wiener Tradition, wie zur Zeit der Schrammelmusik. Anfang der 1980er Jahre entdeckt die Lippenvirtuosin - unvermeidlich - der geniale Wachküsser André Heller für seine Revue "Salut". Nach großen Erfolgen in Europa erobert die Show auch den "Broadway".

"A huge and hearty women is whistling Offenbach's Barcarole until the birds come down from the trees." Quasi als Huldigung auf ihre Herkunft wird sie künstlerisch geadelt: "Baroness Ups von Upstrill, die letzte, Kunstpfeiferin der Welt". "Danke schön, danke schön, Sie sind das beste Publikum! ... heute Abend."

André Heller: Für Jeanette

Dass jemand andauernd auf die Welt pfeift, damit berühmt wird und gut davon leben kann, ist ein rarer Fall. Jeanette Ups von Upstrill ist die Letzte und daher in jedem Fall auch die bedeutendste Kunstpfeiferin unserer Zeit. Sie scheint aus dem Nachlass von Fellini zu stammen:

Ein exzentrisches, monomanisches, selbstironisches, bizarres Theatermonster erster Klasse. Eine Wiener Zuckergoschn mit beschränkter Haftung. Gänsehäufl und Broadway, Allüre und Katzenjammer. Ich hab sie immer sehr gemocht, und in vielen meiner Varietéproduktionen besaß sie einen Ehrenplatz. Wer staunen will, der liege ihr für eine Weile zu Füßen.

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