Das Leben des Dr. Kinsey
Dr. Sex
Dieser Tage feiert "Dr. Sex" Kinsey seine cineastische und literarische Wiedergeburt. Literarisch setzt ihm T. C. Boyle ein Denkmal: Sein Roman richtet sich - wie Kinseys berühmter Report - gegen die Prüderie einer verkorksten Gesellschaft.
8. April 2017, 21:58
Wir wissen mehr über die Verhaltensweisen eines Insekts als über das, was in den Schlafzimmern dieses Landes vor sich geht, über die Vorgänge, denen jeder einzelne von uns es verdankt, dass er jetzt hier, in diesem Raum, sein kann. Ist das wissenschaftlich sinnvoll? Ist es auch nur ansatzweise rational oder vertretbar?
Das fragt Dr. Kinsey, der ehemalige Wespenforscher und Protagonist des vorliegenden Romans, seine Studenten beim "Ehekurs" an der Universität von Indiana. Es geht um Sex, um Aufklärung und um Revolution im verklemmten Amerika der 40er und 50er Jahre.
Insider skandalträchtiger Recherchen
T. C. Boyle schleicht sich als fiktiver Mitarbeiter namens John Milk bei Professor Kinsey ein und berichtet gleichsam als Insider von den skandalträchtigen Recherchen. Er schreibt einen Roman, dessen Inhalt sich - wie Kinseys berühmter Report - gegen die Prüderie einer verkorksten Gesellschaft richtet.
Er war beinahe zu Tränen gerührt, als er von den Interviews mit Sex-Straftätern berichtete, die er im Gefängnis besucht hatte. Diese Männer waren wegen irgendwelcher Handlungen, die im Widerspruch zu antiquierten Gesetzen standen, eingesperrt worden. Wie zum Beispiel bei dem Mann aus South Bend, der im Knast saß, weil er sich von seiner Frau oral hatte befriedigen lassen. Homosexualität und unehelicher Geschlechtsverkehr waren überall verboten, Masturbation ebenfalls, und unnatürlicher Verkehr wurde in den meisten Bundesstaaten als Schwerverbrechen bestraft.
"In einer Zeit, in der George W. Bush wiedergewählt wird, stößt ein solcher Mann auf Interesse", erzählt T. C. Boyle der Weltwoche und beruft sich auf das Schwulen- und Abtreibungsverbot, mit dem der amtierende Präsident der USA seine letzte Wahl gewonnen hat, und wie Boyle es nennt, "eine Zeit neuer sexueller Repressionen heraufbeschwört".
Die subtilen Anomalien der Gesellschaft
Die legendäre Kinsey-Studie fußte auf der Auswertung von 18.000 Interviews. Ihre Wirkungsgeschichte war enorm. Die wissenschaftliche Errungenschaft stellt der amerikanische Star-Autor den abstrusen Auswüchsen der propagierten sexuellen Freiheit gegenüber.
Boyles unkomplizierte Herangehensweise verschmilzt mit einem lapidar-abgebrühten Erzählton und wirbelt die Figuren, die sich blind in ihre neuen Freiheiten stürzen, wie Jonglierbälle durcheinander. Auf knapp 500 Seiten beschreibt er die subtilen Anomalien einer nach Freiheit strebenden Gesellschaft, erhebt aber gleichzeitig den Zeigefinger gegen ein System, das immer schneller Heuchelei und Bigotterie um sich greifen lässt.
Genug Raum zum Nachdenken
In seinem vorletzten Roman "Drop City" beschreibt der Autor, wie eine Hippie-Kommune in ihrem Streben nach Freiheit scheitert. Im neuen Roman geht T. C. Boyle noch zehn Jahre zurück: zu den Anfängen der sexuellen Revolution. Ein überaus gelungenes, gesellschaftskritisches Werk, dessen Fangarme bis in die hintersten Winkel des menschlichen Denkens und Handeln reichen; und weil der Autor mit keinen vorgefertigten Antworten aufwartet, bleibt genug Raum zum Nachdenken.
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Buch-Tipp
T. C. Boyle, "Dr. Sex", ins Deutsche übertragen von Dirk van Gunsteren, Hanser Verlag, ISBN 3446205667