Diffuse Gedanken, nächtens

Beautiful Losers - Teil 2

Es kann sehr dunkel sein am Urgrund allen Seins, dort, wo man sich aus der Puppe der Kindheit geschält hat, um sich in ein gesellschaftstaugliches Wesen zu verwandeln, und wohin man nie mehr zurück möchte.

Manchmal schwemmt einen das Leben in seiner Unberechenbarkeit retour ins Jugendzimmer, in die Urzelle des Kritikers, die den Zeitläufen trotzt wie nicht einmal die brillanteste Rezension. Seit dreißig Jahren herrschen auf sechzehn Quadratmetern ohne Unterbrechung die lauwarmen, orangebraunen, verschwitzten Siebziger, und wenn man in der Nacht in tiefer Dunkelheit viel zu weich gebettet unter dem schmalen Bücherbord liegt, auf dem die Lektüre der ersten zwanzig Lebensjahre und noch ein paar Briefmarkenalben spielend Platz fanden, wenn man dazu noch alleine auf den Schlaf wartet, weil einem Marialuise abhanden gekommen ist, Wand an Wand mit Papa und Mama, die glückselig schnarchend auf das Christkind warten - dann hilft einem auch die Literatur nicht mehr weiter.

Freilich, man ist ausgestattet mit einem Stapel Neuerscheinungen, die man aus beruflichen Gründen lesen muss. Aber das Geworfensein der Kreatur auf den längst entsorgt geglaubten Müll ihrer Biografie macht jeden Versuch, im Hier und Jetzt zu leben, zunichte. Wie überhaupt die Literatur in Momenten der inneren Gefangenschaft keine Hilfe ist, im Gegenteil, wie manche Droge verstärkt sie nur das Gefühl des Leidens an sich selbst. Interessant: Eines Tages hat Marialuise den Ring am Daumen getragen, von da an ging's bergab.

Pilot statt Kritiker?

Andererseits: Ein sensibler Mensch leidet immer an sich selbst, sonst wäre er Pilot geworden und nicht Kritiker. Und wird er doch Pilot, holt ihn die Wirklichkeit vom Himmel, man denke nur an Saint-Exupéry.

Draußen, unterm schwarzen Himmel, kracht das Eis. "Mein Herr, ich kann häufig fliegen" sagte einmal ein Schizophrener zu Charles Dickens, und der war peinlich berührt, weil er das auch konnte, nachts im Traum. "Sind die geistig Gesunden und die Irren bei Nacht nicht gleich, wenn die Gesunden im Traum liegen?", räsonierte er. Nachts streifte er gern durch London, auch er ein schlechter Schläfer.

Jeder Mensch widersetzt sich der Schwerkraft

"Ist das ein Beruf, Kritiker?" Wie oft, vor allem bei feierlichen Anlässen, wenn in der Familie schon die eine oder andere Flasche Wein gekippt worden war, hat man nicht schon diese Frage gehört. Nein, sage ich dann gern und zitiere Klaus Kinski: "Das ist eine Scheißhausbeschäftigung für impotent sabbernde Paralytiker." Aber man verzeiht mir und klopft mir lächelnd auf die Schulter. Aus dem, heißt es dann, hat ja etwas Besonderes werden müssen. Sie alle können sich noch daran erinnern, dass ich in meiner frühen Jugend Gedichte geschrieben und als Kind Särge und Kerzen in meine Schulhefte gezeichnet habe. Der Bub muss zum Psychologen, hat die Lehrerin gesagt. Nee, der wird Kritiker, war die Antwort meines Vaters. Gut, das war jetzt ein Witz, aber es hätte sich ja so zutragen können.

In Wirklichkeit war er, ohne es zu wissen, ein Anhänger des Rousseau'schen Erziehungsideals: "Wie ich alle Pflichten von den Kindern fernhalte, so nehme ich ihnen die Werkzeuge ihres größten Unglücks: die Bücher". Dass ich mir eben diese - spät aber doch - erobert habe, instinktiv sozusagen, und dass ich noch dazu davon leben kann, hat ihn dann doch beeindruckt. Aber ich meine, jeder Mensch widersetzt sich der Schwerkraft, indem er ein Stück weit in den Himmel wächst. Meine Mutter hätte es lieber gesehen, wenn Marialuise und ich ihr eine Horde kleiner Kritiker beschert hätten. Aber gut, sie sind zumindest froh, dass ich diesem Goethe nie über den Weg gelaufen bin, der einmal geschrieben hat: "Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent!" Sie glauben ja fest daran, dass man als Kritiker nie mit Halbstarken in Berührung kommt.

Ja, übrigens, der Psychologe, den die Lehrerin im Sinn hatte, wurde später wegen Anstiftung zum Mord verurteilt. Kein Witz! Glück für mich, würde ich sagen. Es hätte also alles viel, viel schlimmer kommen können.

Das ist die Wahrheit!

Plötzlich wird es hell im Zimmer, draußen vor dem Fenster, auf der verschneiten Wiese, landet ein Flugzeug. Saint-Exupéry zieht sich den Lederhelm vom Kopf und hebt einen Arm zum Gruß. Er sei direkt aus Marokko hierher geflogen, sagt er, weil ihm etwas durch den Kopf gegangen sei, das er unbedingt loswerden wolle: "Man entdeckt nicht die Wahrheit, mein Junge, man erschafft sie. Das schreib dir hinter die Ohren. Und noch was: Die größte Herausforderung beim Fliegen ist nicht das Handwerk und nicht das technische Wissen, als vielmehr das Beobachten. Sinnvoll beobachten kann aber nur derjenige, der mit einem ausreichenden Maß an Kritikfähigkeit ausgestattet ist. Kritiker sind aber nicht gerade beliebt. Man hält sie für Nörgler, die in jeder Suppe ein Haar finden. Die Leute haben kein Vertrauen zu einem Kritiker. C'est la verité!"

Dann setzt er seinen Lederhelm wieder auf, startet die Maschine, rollt über die Wiese, und ehe das Flugzeug abhebt, sehe ich Marialuise im erleuchteten Cockpit, wie sie Saint-Exupéry durch Schulterklopfen und aufgerichtetem Daumen bedeutet, wie gut er seine Sache gemacht habe. Daraufhin hat keine Menschenseele die beiden jemals wieder gesehen. Es heißt, sie ruhen am Grunde des Mittelmeeres.