Kristall, Chaos, Winter

Enzyklopädie vom Schnee

Ungewöhnlich ist er, der Debüt-Roman der jungen in London lebenden Amerikanerin Sarah Emily Miano. Ungewöhnlich und in seinen vertrackten Rätseln faszinierend. Eine Kurzgeschichten-Sammlung ist das Buch nur vordergründig.

Die "Enzyklopädie vom Schnee" ist bei vordergründiger Betrachtung eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten zu frostigen Stichwörtern wie Kristall, Chaos, Winter oder Polarität. Erst bei genauerem Studium der einzelnen Einträge ergeben sich Verbindungen, Parallelen und schließlich ein kristallin-strahlendes Ganzes.

Sonntagabend gehörte der Familie, dann walkten wir drei Mädels Pizzateig und lachten, und der Mehlstaub wölkte unter unseren Pantoffeln. Wir futterten zu Disneyfilmen Pizza von Papptellern und wischten uns mit Küchenpapier das Kinn; ich hielt uns für eine glückliche Familie. Jetzt zog Mama sonntagabends los und machte alles an, was zwei Beine und Hoden besaß, während Papa und ich elend daheim hockten mit einer Leere im Herzen, von der wir glaubten, es könne sie niemand sonst füllen.

Familiäre Fassade im Reihenhaus

Die Sonne weicht dem permanenten Frost. Das einst warmherzige Familienleben mutiert zu einem losen Verbund von Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit die Kälte in ihren Beziehungen ist. Libby, das Mädchen, das in der Vorstadt von Buffalo aufwächst und deren Geschichte von mehreren Wegbegleitern und von ihr selbst erzählt wird, stellt sich schon bald als Hauptperson heraus. Es ist die Erzählung einer brutalen Entfremdung. Die Geborgenheit der Kleinfamilie im netten Reihenhaus ist nur Fassade, dahinter verbirgt sich die frustrierende Einsamkeit des Heranwachsens und die hilflose Verzweiflung nach Liebesentzug.

Schließlich haute Mama ab, sie zog ohne Vorwarnung nach Florida. Kein Brief - weder Abschieds- noch sonst einer - für die liebe Familie, keine Nachricht per E-Mail, Anrufbeantworter oder Schneckenpost. Nur das stete Ticken der Standuhr und ein ordentlicher Ölfleck in der Einfahrt, wo ihr Toyota immer gestanden hatte.

Das Streben nach Idylle

Die Mutter verschollen, der Vater verbittert und der Boyfriend verständnislos. Wirklich gut fühlt sich Libby nur, wenn sie sich den Finger in den Rachen steckt und ihren Körper derart manipuliert. So hilflos sie in ihrer Einsamkeit gefangen ist, so streng verfolgt sie die Umgestaltung ihres Äußeren. Selbsthass und die Macht über ihren Körper werden zum manischen Treibstoff ihres Daseins. Komplimente für ihre ansehnliche Figur bestärken sie in ihrem Tun. Doch das Streben nach dem perfekten Glück zumindest in körperlicher Form wird bald zur Sucht. Selten wurden Quellen, Verlauf und Auswirkungen von Bulimie derart eindringlich und beeindruckend dargestellt. Die amerikanische Vorstadt-Hölle bleibt ein bestimmendes Thema der "Enzyklopädie vom Schnee".

Mehrere Kurzgeschichten geben ein deprimierendes Bild der vermeintlichen Idylle. Ein kleines Mädchen, das nach einem Fahrradunfall vom schrulligen Nachbarn sexuell missbraucht wird, 30 Drogentote in nur einem Monat, ein Ex-Junkie, der zum Bibel-hörigen Prediger mutiert oder ein verheerender Schneesturm mitten im Sommer. Diesen frostigen Erzählungen stellt Miano wesentlich warmherzigere Geschichten aus viel kälteren Regionen gegenüber.

Kluge Kombinierer gefragt

Sarah Emily Mianos Roman fordert höchste Aufmerksamkeit, um im alphabetisch geordneten Konvolut aus Aufzeichnungen, Kurzgeschichten, Notizen und Zitaten zum Themenbereich Schnee, Eis und Kälte und dem dazwischen liegenden Haupttext nicht den Faden zu verlieren. Der kluge Kombinierer wird allerdings belohnt mit einem exzentrischen, packenden Romandebüt, das unter die Haut geht. Der eigenwillige Aufbau der Erzählung lässt sich durchaus mit dem Entstehen von Schnee vergleichen: Aus einzelnen Kristallen wird eine Flocke mit zarten Sprossen und wilden Verästelungen.

Buch-Tipp
Sarah Emily Miano, "Enzyklopädie vom Schnee", Deutsch von Uda Strätling, S. Fischer Verlag, ISBN 310048410X