Eine beinahe klassische Männergeschichte
Matta verlässt seine Kinder
Es ist eine beinahe klassische Männergeschichte, die Gregor Hens in seinem neuen Buch erzählt: Die Amokfahrt eines Mannes, der jede Perspektive verloren hat und ein neues Leben versucht. Es ist das psychologische Diagramm eines Mannes im Ausnahmezustand.
8. April 2017, 21:58
Der Titel "Matta verlässt seine Kinder" nimmt die Grundzüge der Handlung in Gregor Hens' neuem Buch schon vorweg: Karsten Matta bereist seit Jahren die Krisengebiete der Welt im Auftrag einer internationalen Consulting-Firma, bis er eines Tages plötzlich den Faden seines Lebens verliert. Konkret geschieht es im pakistanischen Konsulat, wo Matta auf seine erforderlichen Visa wartet und sich der in ihm aufgestaute Druck mit einem Mal entlädt.
Scheiß Pakistan, rief er, Scheiß Karatschi, Drecksloch, euer Scheißkrieg, stempelt euch eure eigenen dreckigen Pässe ab, fahrt selbst hin und schreibt über das Elend und lasst euch erpressen, ich will es nicht, ich tue es nicht mehr, ich werde euch den Gefallen nicht mehr tun, sie werden einen anderen finden, aber ich werde es nicht mehr tun, ich werde euch den Gefallen nicht mehr tun, ich fahre nicht mehr nach Pakistan oder auf den Balkan oder nach Afrika, ich berichte nicht mehr über Menschen, die sich gegenseitig abschlachten, die einander ausrauben, vergewaltigen, Männer, die ihre Frauen anzünden und die Kinder ihrer Nachbarn vergewaltigen. Möglichst schnell und möglichst oft und möglichst brutal.
Matta kündigt
Mit einer kurzen E-Mail nach London kündigt Karsten Matta bei seiner Firma, verlässt die Wohnung, seine Frau Rebecca und seine beiden Kinder Malte und Chris und fährt nach Hamburg, wo er seine schwedische Geliebte Malin treffen will. Für den Autor Gregor Hens hat vor allem die Tatsache, dass Matta seine Kinder so einfach zurücklässt, etwas Beunruhigendes, weshalb er auch eben diese Kinder schon im Titel erwähnt:
"Das hat etwas von einem Tabubruch. Selbst wenn man seine Familie verlässt, dreht man es eigentlich immer so, dass man den Ehepartner verlässt, die Ehepartnerin, und dass die Kinder praktisch Kolateralschaden sind. Ich wollte das umdrehen, wollte das besonders Irritierende dabei herausarbeiten," erzählt Hens.
Fahrlässigkeit mit dem Leben
Der Rest des Buches beschreibt die Amokfahrt eines Mannes, der jede Perspektive verloren hat. Matta lässt sich beinahe mit einer osteuropäischen Hure ein, nur ein Anruf von Malin reißt ihn wieder in die Realität zurück. Sie fahren ziellos aufs Land, aber auch die scheinbar friedliche Umgebung ist nur die Kulisse für ein makabres Szenario:
Matta und Malin geraten in eine Hochzeit, bei der plötzlich ein Feuer ausbricht und ein junges Mädchen getötet wird. Die Flucht vor dem Grauen endet in einem Autounfall, bei dem Matta vielleicht ums Leben kommt. Die Frage, ob er überlebt, hat Gregor Hens ganz bewusst nicht beantwortet: "Es geht in dem Buch nicht darum, ob er stirbt oder nicht, sondern es geht darum, wie fahrlässig er mit seinem Leben umgeht."
Spiel mit Sprache und Inhalt
Gregor Hens, der Sprachwissenschaftler, spielt in seinem Buch mit Sprache, Erzählform und Inhalt. Immer wieder wechselt er die Erzählperspektive, versetzt sich sowohl in Karsten Matta als auch in seine Frau Rebecca oder Malin, die Geliebte.
Erst auf den zweiten Blick zeigt das Buch seine eigentliche Stärke: als psychologisches Diagramm eines Mannes im Ausnahmezustand. Karsten Matta ist kein besonders angenehmer Protagonist in seiner Rücksichtslosigkeit gegenüber seiner Umgebung, aber Gregor Hens schafft es, ihn zumindest nachvollziehbar erscheinen zu lassen.
Mehrere Jahre hat sich Gregor Hens geistig mit dem Thema seines Buches beschäftigt, ehe er es endgültig in Worte goss. Inzwischen arbeitet der große Thomas-Bernhard-Liebhaber, der sogar eine Monografie über den österreichischen Literaten schrieb, an seinem nächsten Roman - einem umfangreichen Werk, das sich von den vorhergehenden Texten grundlegend unterscheiden soll.
Buch-Tipp
Gregor Hens, "Matta verlässt seine Kinder", S. Fischer Verlag, ISBN 3100325818