Die Anfänge der Geologie
Die Muschel auf dem Berg
Was haben Muscheln eigentlich am Berg verloren? Wenn man heute versteinerte Exemplare im Gebirge entdeckt, geht man wie selbstverständlich davon aus, dass diese Reste aus jener Zeit sind, in der das Land vom Meer bedeckt war. Das war nicht immer so.
8. April 2017, 21:58
Noch im 17. Jahrhundert glaubte die Mehrheit der gebildeten Menschen felsenfest an die biblische Schöpfungsgeschichte und konnte sich nicht vorstellen, dass die Erde überhaupt eine Geschichte hat, die weiter als 6000 Jahre zurückreicht.
Ein Mann widersetzte sich dem allgemeinen Denkverbot dieser Zeit und ging den seltsamen Funden auf den Grund. Der dänische Anatom Nicolaus Steno wagte, die Bibel zu widerlegen und erkannte anhand der Gesteinsschichten die Geschichte der Erde. Er verstand es als erster, in den Sedimenten wie in einem Archiv zu lesen und formulierte schließlich die bis heute gültigen Gesetze der Geologie. Nachzulesen gibt es sein abenteuerliches Leben in dem Buch "Die Muschel auf dem Berg" von Alan Cutler.
Mit einem Hai fing alles an
Man schrieb das Jahr 1666. Die Kunde vom sensationellen Fang eines Fischers erreichte den Palast der Medici in Florenz: Es war ein großer, weißer Hai, der über eine Tonne wog. Großherzog Ferdinando II., ein ebenso großer Freund der Naturgeschichte wie großzügiger Förderer der Wissenschaft, gab unverzüglich Anweisung, das tote Monster an seinen Hof zu bringen, um es von seinen Gelehrten untersuchen zu lassen.
Das jüngste Mitglied in deren Kreis war ein kleiner, bescheidener Anatom aus Dänemark namens Nicolaus Steno. Trotz seines geringen Alters von nur 28 Jahren, galt er schon als veritable Berühmtheit aufgrund seiner exzeptionellen Beobachtungsgabe und seinem ebenso außergewöhnlich geschicktem Umgang mit dem Skalpell. Seine anatomischen Entdeckungen, darunter beispielsweise die Tränendrüse, hatten in Leiden und Paris, den beiden führenden Zentren der europäischen Gelehrsamkeit, für großes Aufsehen gesorgt.
Der Beginn einer geistigen Revolution
Am Hof der Medici galt Steno als Jungstar, dem es ganz selbstverständlich überlassen wurde, den Haifisch zu sezieren - ohne dabei zu ahnen, welch grundlegende Veränderung in der Sichtweise auf die Geschichte des Planeten dadurch ihren Anfang nehmen sollte.
Der zufällige Fang eines Haifischs und dessen Zerlegung durch einen jungen Wissenschaftler, der sich an einem renommierten italienischen Hof beweisen wollte, markierten den Beginn einer geistigen Revolution, die auf ihre Weise ebenso tief greifend war wie die Umwälzung, die Galilei und Kopernikus bewirkten. Die Welt erwies sich als viel, viel älter als die menschliche Spezies und ließ sich nicht länger ausschließlich für uns in Anspruch nehmen.
Verblüffend einfache Lösung
Steno fiel sofort auf, dass die Haifischzähne den so genannten Zungensteinen "wie ein Ei dem anderen" gleichten. Diese auch als Glossopetren bekannten Steine waren nahezu überall zu finden und wurden wegen ihrer angeblich heilenden Kräfte als Talisman überaus geschätzt. Des Rätsels Lösung bestand nun darin, zu ergründen, warum sich Seemuscheln, Haifischzähne und andere versteinerte Meeressubstanzen auf den entlegensten Bergspitzen fanden.
Die Fossilien-Funde wurden natürlich auch damals nicht gänzlich ignoriert. Manche glaubten allerdings, dass die Muscheln in den Steinen wachsen würden. Andere wiederum waren der Überzeugung, sie wären von der Weltseele und vom Himmel aus in die Gesteinsmassen "hineingestrahlt".
Nicolaus Steno wollte das uralte Rätsel ergründen. Innerhalb weniger Wochen schrieb er das bahnbrechende Werk "De solido", zu Deutsch "Über Festes", und erklärte darin in verblüffend einfacher Weise, dass die Urmeere ihre Spuren in Form von Zungensteinen und Muscheln hinterließen. Es war die erste richtige Theorie der Fossilien und Deutung von Gesteinsschichten. Es war aber auch ein Entwurf für eine vollkommen neuartige wissenschaftliche Herangehensweise an die Natur. Eine Methode, die die Zeit als wesentlichen Faktor mit einschloss.
Weltbild auf den Kopf gestellt
Der Autor Alan Cutler zeigt auf überaus spannende Weise, wie der analytische Däne den Blick auf die Erdgeschichte revolutionierte und dabei eine neue Disziplin schuf: die Geologie. Er zeigt aber auch, wie paradox sein Leben verlaufen ist. Als Wissenschaftler stellte er die 6000 Jahre umfassende biblische Zeitskala völlig auf den Kopf, als Privatmann hingegen wurde er immer mehr zum glühenden Katholiken. Seine letzten Jahre verbrachte er als asketischer Priester.
Buch-Tipp
Alan Cutler, "Die Muschel auf dem Berg. Nicolas Steno und die Anfänge der Geologie", aus dem amerikanischen Englisch von Harald Stadler, Geo Buch im Knaus Verlag, ISBN: 3813501884