Thomas Steinfelds Axel-Munthe-Biografie

Der Arzt von San Michele

Axel Munthe, charismatischer Arzt der gekrönten Häupter seiner Zeit, hat in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit gekonnt verquickt. Thomas Steinfeld rückt das Bild zurecht und erzählt das Leben des Arztes mit der Neugier eines Spurensuchers.

"Dichtung und Wahrheit" sind schon in den späten Lebenserinnerungen von Johann Wolfgang Goethe auseinandergeklafft. Im Unterschied zu Axel Munthe hat Goethe dieses Auseinanderklaffen aber schon im Titel seines Werks kenntlich gemacht. Die klassisch geordnete Welt war bereits aus den Fugen, als Goethe seine Lebenserinnerungen 1831, ein Jahr vor seinem Tod, beendete - Französische Revolution, Befreiungskriege, Entstehung der Nationalstaaten, aufstrebendes Bürgertum, romantische Individualisierung.

Axel Munthe, ein Vierteljahrhundert nach Goethes Tod geboren, lebt erst recht in einer Zwischenzeit und macht sie sich zunutze. Es ist die Phase nach dem Deutschfranzösischen Krieg bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in der er seine sagenhafte Karriere realisiert.

Doktor der Armen und der Herrscher

Eigentlich war er nichts weiter als ein kleiner Arzt aus Schweden. Gehandelt wurde er aber als Koryphäe, der in den Herrscherhäusern Europas zu Gast war und es gleichzeitig schaffte, sich als Doktor der Armen auf Capri und als Helfer bei der großen Choleraepidemie in Neapel zu stilisieren. Ein Selbstdarsteller, der sich nicht fotografieren lassen wollte, ein Gesellschaftslöwe, der die Gesellschaft verachtete, ein Blender, der zunehmend erblindete, ein Mensch in seinem Widerspruch, der das schönste Haus der Welt am schönsten Ort der Welt erbauen wollte, in dem er es dann nicht aushielt, weil man in einem Museum nicht leben kann.

Munthe war nicht beliebt, aber begehrt. Ein begnadeter Verführer, der zur Hochform aufläuft, wo er auf Widerstand stößt und den niemand mehr interessiert, den er erobert hat, am allerwenigsten die Frauen, die er behandelt und hypnotisiert. Seine beiden Ehefrauen verräumt er wie Möbelstücke, in seiner Autobiografie spielen sie kaum eine Rolle.

Immer auf der Flucht

Aus Schweden flieht Munthe nach Paris, wo er studiert, promoviert und schließlich eine Praxis betreibt. Aus Paris flieht er nach Capri. Ein Traumhaus will er bauen, das alle anderen Häuser unter der Sonne von Capri in den Schatten stellt, einen lichtdurchfluteten Tempel, ein Kunstwerk, das sich zur Landschaft erweitert. Den Architekten verschweigt er genauso wie seine Finanziers.

Von der Villa flieht er in andere Domizile der Insel und nach Rom, wo er illustre Patienten behandelt. Von Rom flieht er zurück nach Capri, wo er nach wie vor illustre Gäste empfängt und betreut. Die kränkelnde schwedische Prinzessin und spätere Königin Victoria etwa, die zu seiner Patientin und Geliebten wird. Auch Kronprinz Rudolf soll vorbeigekommen sein. Der war zum Zeitpunkt seines erwähnten Besuchs allerdings schon einige Jahre tot. Mehr Dichtung als Wahrheit also oder höhere Selbstironie?

Kontrahent Charcot

Ganz und gar nicht ironisch ist die Geschichte von Munthes selbsterwählten Kontrahenten Jean Martin Charcot zu verstehen, wegen dem er Paris verlassen haben will. Charcot, so Steinfeld, war bestimmt ein besserer Arzt als Munthe, eine Jahrhunderterscheinung, ein Wissenschaftler ersten Ranges, der psychische Ursachen für somatische Krankheiten und körperliche Ursachen für psychische Symptome findet, ein Lehrer, der Sigmund Freud den Weg zur Psychoanalyse weist.

Munthe hat nicht nur als Autor, der seine Karriere inszeniert, die Nase vorne. Ein aus den Wäldern des Nordens stammender Naturmensch fühlt sich dem Städter Charcot in Sachen Hypnose - vielleicht zu Unrecht - überlegen. Aber dass Munthe blasse und dahinsiechende Frauen mit der Diagnose Colitis an die Luft schickt und therapeutische Spaziergänge empfiehlt, mag tatsächlich mehr zu deren Wohlbefinden beigetragen haben als ihre Behandlung in der berühmtesten Klinik der Welt.

Munthe vor dem Zeithintergrund

Und was bleibt von der Geschichte? Ein Haus auf Capri, das heute das einzig gewinnbringende Museum Schwedens ist, eine Selbstdarstellung von Axel Munthe, die noch immer gelesen wird, und das Buch von Thomas Steinfeld, in dem er das Phänomen Munthe vor dem Zeithintergrund verstehbar macht. Nicht aus der Lust zur Demontage hat Steinfeld dieses Buch geschrieben, sondern mit der Neugier des Spurensuchers.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Thomas Steinfeld, "Der Arzt von San Michele. Axel Munthe und die Kunst, dem Leben einen Sinn zu geben", Hanser Verlag, ISBN 978-3446208445