Und wie bewältigt man das?

Wien - eine Hassliebe

Was anderswo vielleicht als schlechte Erziehung gelten mag, gehört im Wien zur täglichen Selbstverständlichkeit und zum guten Ton. Als nicht Gebürtige ist man für manchen Wiener eben schief ins Leben geschraubt. Ich bin ja selber schuld.

Diese Stadt kann einen killen. Wer braucht nörgelnde Mitmenschen, die - zu jeder normalen Kommunikation unfähig - mit zuckersüßer falscher Freundlichkeit, beißendem Zynismus oder purer Aggression das Dasein der Anderen quittieren.

Wie oft stehe ich des Morgens auf und fantasiere schon - noch bevor ich mich auf das zwischenmenschliche Schlachtfeld begebe - von einem Leben anderswo! Zum Beispiel in Berlin, wo ein frischer Wind weht, Menschen mit Fahrrädern die Stadt bevölkern, einander beim Sprechen in die Augen sehen und sagen, was sie denken.

Obwohl mir gerade ein Freund erzählt hat, er würde nun nach fünf Jahren in Berlin nach Wien zurück kommen, weil "es sich hier so gut leben lässt". Wovon redet der Mann? Spätestens, wenn ich dann vor dem Spiegel stehend zur Wimperntusche greife, weiß ich - mangels Alternativen: Es ist Zeit für die Rüstung!

Wien ist anders! Ja, das stimmt! Unverständlich, widerwärtig, hinterhältig, wohlriechend, deprimierend und aggressiv, von einer kaum zu überbietenden Lieblichkeit. Bringt diese Stadt das Beste in allen zum Vorschein oder muss man und frau sich hier - als Nicht-Gebürtige/r - gar Eigenschaften zulegen, die anderswo als Folge schlechter Erziehung und eines ebensolchen Charakter klassifiziert werden?

O.k., alles mein Problem. Bin halt schief in die Welt geschraubt. Dies zur Kenntnis nehmend schlage ich ab sofort einen neuen Weg ein: Ich mache eine Sendung, und zwar über Wien. Ich gehe durch die Stadt, folge immer einem bestimmten Thema, stecke meine Nase in alles und versuche, auf kreative Weise zu verstehen, was mir bisher unverständlich blieb. Hilft mir das weiter? Ja!

Jüngst habe ich mich dem Thema "Wohnen in Wien" gewidmet. Und ich habe gelernt, dass der soziale Wohnbau das "Fleisch" der Stadt ausmacht. In welcher anderen europäischen Stadt trat die Kommune so intensiv als Bauherrin von Wohnhausanlagen auf, einer gesellschaftspolitischen Vision folgend, nach der jeder und jede die Möglichkeit haben sollte, in leistbaren und qualitativen Wohnungen zu leben? Gut, ich will nicht in Euphorie verfallen, denn die sozialreformerische Intention hat sich - trotz großer Geschichte und Tradition - in den letzten Jahrzehnten schon etwas verdünnt. Trotzdem: Wohnungselend und soziale Ghettoisierung gibt es in Wien kaum.

Ich habe auch gelernt, dass die Wienerinnen und Wiener keine urbanen Menschen sind, sondern sich gerne in die Halböffentlichkeit geschützter Höfe zurück ziehen. Da kann man dann hinter vorgehaltener Hand schimpfen, die Welt neu erfinden, Revolutionen starten - und dann untätig in die Wirklichkeit der Unterwürfigkeit unter selbsternannte Autoritäten zurück kehren. Aber: das macht die Stadt auch gemächlich, gemütlich, bewohnbar, genießbar.

Vielleicht - denke ich - braucht man die Rüstung gar nicht so notwendig wie angenommen. Vielleicht bedarf es nur etwas mehr Gelassenheit. Vielleicht muss man nur im gemächlichen Strom der Wurschtigkeit mitschwimmen, nicht alles so ernst nehmen und das genießen, was da ist.

Diese Stadt lässt einen auch gut leben. Denn abgesehen vom guten Wasser, dem gutem Essen, dem reichen und sich ständig erneuernden Kulturangebot und der wunderbaren die Stadt umgebenden Natur genieße zumindest ich es, in einer Stadt zu leben, in der sich - noch - keine sozialen Gräben auftun und man sich der Annahme (oder Illusion?) hingeben kann, es gäbe noch so etwas wie soziale Gerechtigkeit. Der aus Berlin zurück kehrende Freund hat vielleicht doch Recht.

TV-Tipp
Die Stadtgängerin, Mittwoch, 9. Mai 2007, 20:45 Uhr, 3sat

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3sat - Die Stadtgängerin