Vom Überleben im Wehrmachtsbordell

Deine grünen Augen

"Dies ist die Geschichte meiner Liebe. Sie handelt von der Liebe fast genauso wie vom Töten", sagt gleich zu Beginn von Arnost Lustigs Roman "Deine grünen Augen" der Ich-Erzähler. "Sie handelt davon, was Erinnerung oder Vergessen leisten können und was nicht."

Es ist eine Geschichte aus finsterer Zeit, die im September 1944 beginnt und irgendwann nach dem Krieg endet, im Wesentlichen aber von jenen 21 Tagen und Nächten berichtet, die Hanka Kaudersova, die Geliebte und spätere Frau des Erzählers, in "Nr. 232 Ost" zubringen musste: einem Wehrmachtsbordell irgendwo am Ufer des San, östlich von Auschwitz. Dort musste sie täglich zwölf Soldaten bedienen - eine fünfzehnjährige Jüdin mit grünen Augen, die sich für eine volljährige Arierin ausgab, um der Gaskammer zu entrinnen.

Das Böse und der Holocaust

Das ist das große Thema des Arnost Lustig: die Frage nach der Moral in Zeiten des Terrors, der Überlebenskunst und Integrität. Wie kommt es, dass eine so fortschrittliche Nation wie Deutschland ein solches Kapitalverbrechen begehen konnte? Wie kommt es, dass die Juden alles mit sich machen ließen? Wie kommt es, dass die Welt in Gleichgültigkeit erstarrte? Fragen, die Lustig in mittlerweile zwanzig Büchern umkreiste. Fragen, auf die es keine Antwort gebe könne, niemand verstehe das.

Bevor Hanka Kaudersova aus Prag im Feldbordell ums Überleben kämpfte, war sie mit ihrer Familie im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Dort hatte sich ihr Vater gegen den elektrischen Zaun geworfen, ihre Mutter wurde bei einem "Selektionsappell" ausgesondert, ihr kleiner Bruder gleich von der Rampe ins Gas geschickt.

Eine Frage der "Ehre"
Hanka war Putzfrau im Krankenblock, man machte Röntgenversuche mit ihr und sterilisierte sie. "Sie musste mit Grausen zur Kenntnis nehmen, was hier alltägliche Vorkommnisse waren: die medizinischen Experimente, die fließbandartige Tötung von Menschen, die langen Züge in die Umkleideräume, in die Keller der fünf Krematorien." Als in einem der Blocks, die sie putzte, Mädchen für ein Feldbordell gemustert werden, sieht sie die Chance, ihrem Schicksal zu entrinnen. Und Hanka hat Glück. "Den Soldaten an der Front zu dienen, sei eine Ehre", erklärte der Hauptsturmführer nach der Selektion.

Lernen, gleichgültig zu werden
Eindringlich beschreibt Lustig den Alltag in Hankas Feldbordell, die Ängste und Malaisen ihrer Kameradinnen, den Hunger, die Kälte, die Hundekämpfe zur Soldatenbelustigung; beschreibt, wie Hanka es lernt, vorsichtig zu sein, gleichgültig zu werden, sich zu verstellen und sich nicht zu verraten. Ihre Arbeit besteht nicht nur darin, Männer zu befriedigen, sondern auch, ihnen zuzuhören.

Zum Beispiel, wenn Hauptmann Hentschel, der es eigentlich gut mit ihr meint, von der Maus in seinem Feldlager erzählt: "Das muss eine jüdische Maus sein", sagt der Hauptmann. "Lebenswille und Angst, verbrannt zu werden, reichen nicht aus, diese Maus muss außerdem noch schlau sein und Glück haben, sonst würde sie nicht überleben." Oder wenn Obersturmführer Sarazin, ein wirrer Sadist mit literarischen Ambitionen, mit Selbstaufopferungs- und Weltverbesserungsfantasien, seine "Schönheit ist Tod"-Philosophie expliziert und die Vernichtung als ästhetisches Ereignis besingt. Es sind nicht nur physische Torturen, die Hanka fast stoisch erträgt.

Schwieriges Thema
Das Thema der Prostitution in der Nazizeit greift Lustig hier nicht zum ersten Mal auf. In "Unloved" präsentierte er das Tagebuch einer 17-Jährigen, die sich in Theresienstadt prostituierte. Geschrieben hat er "Die Ungeliebte" für seine damals 17-jährige Tochter, die wegen des vermeintlich anstößigen Inhalts den Vater von einer Veröffentlichung abriet. 1979 kam das Buch schließlich doch heraus. "Die Ungeliebte", eines der wenigen Werke Lustigs, die auch auf deutsch erschienen, wurde kein Skandal, sondern ein Erfolg, ein preisgekröntes Buch.

Eigene Erfahrungen
Lustig ist wie Hanka ein Überlebender, er war in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald und hat, wie er einräumt, dem allerdings kaum greifbaren, nur sporadisch selbst in Erscheinung tretenden Ich-Erzähler autobiografische Züge verliehen. Aber auch die Figur seiner Heldin, die Angst und Geistesgegenwart, Scham und Schuldgefühl, Würde und Gedemütigtsein in sich vereinigt, wäre ohne Lustigs eigene Erfahrungen undenkbar - ohne die Erfahrungen eines tschechischen Juden, der ohne den Holocaust nie Schriftsteller geworden wäre: "I would be a business man, selling sweaters. I became a writer, because nobody believed me about Auschwitz. It was unspeakable, unbelievable. So I started writing. It was the only way how to get rid off it."

Fassungslosigkeit angesichts des Bösen
Nach der Evakuierung des Bordells war Hanka geflohen, gab sich als Deportierte aus und arbeitete in einer Wäscherei, bis sie schließlich im Sommer 1945 wieder in Prag landete, dort den Ich-Erzähler traf und später auch dessen Freund Ervin Adler, der ein Buch über die Menschen in den Lagern plante und sich für die "inneren Reserven des Menschen" interessierte.

Zuvor schon war sie einem Rabbi begegnet, der wie Hanka seine komplette Familie verlor, an Gott zweifelte und fassungslos war angesichts des Bösen in der Welt. Verglichen mit ihm wirkt Hanka fast pragmatisch. Hatte sie sich im Lager an die Erinnerung geklammert, um nicht den Verstand zu verlieren, so begriff sie später, dass es besser war, sich an gewisse Dinge nicht mehr zu erinnern. Arnost Lustig gelingt es überzeugend, das Dilemma seiner Protagonistin vor Augen zu stellen, ihr gefährliches Rollenspiel, den schmalen Grat zwischen Anpassung und Erniedrigung, Täuschung und Enttarnung, und dabei doch diese Hanka mit den grünen Augen nicht völlig zu durchleuchten, ihr etwas Rätselhaft-Unnahbares zu belassen. Ganz ohne Klischees kommt er dabei freilich nicht aus, ganz ohne Kitsch auch nicht.

Romanhaft-konventionelle Form
Die Rahmenhandlung mit Love-Story-Andeutungen und Nachkriegs-Impressionen wirkt alles andere als zwingend, die Rabbi-Auslassung über die Ungerechtigkeit des Schicksals wie aus zweiter Hand, die Hanka-Hymne des Ich-Erzählers papieren.

Lustig beschreibt vieles in beklemmender Anschaulichkeit, aber manchmal wirkt sein Ton doch zu romanhaft-konventionell. Die Geschichte ganz aus der Perspektive der Fünfzehnjährigen erzählt, und "Deine grünen Augen" wäre sicher eine noch dichtere und schlüssigere Lebens- und Überlebensgeschichte geworden.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Arnost Lustig, "Deine grünen Augen", aus dem Englischen von Silvia Morawetz und Werner Schmitz, Berlin Verlag, ISBN 9783827005762

Link
Berlin Verlag - Deine grünen Augen