Norman Lebrecht über die Tonträgerindustrie

Ein schändlicher Tod?

Ist die klassische Tonträgerindustrie eines "schändlichen Todes" gestorben? Die These stammt von Norman Lebrecht. Er hat mit dem Buch "Ausgespielt" nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Klassik-Interpretation auf Schallplatte und CD verfasst.

Dorothee Frank über "Ausgespielt"

Kleine Beckmesserei vorweg: Die deutsche Übersetzung des Titels ist in einem Punkt verwirrend. Sie lautet: "Ausgespielt - Aufstieg und Fall der Klassikindustrie". Dass mit "Klassikindustrie" allein die klassische Tonträgerindustrie und nicht auch das Konzertleben gemeint ist, das kapiert man erst beim Klappentext. Dabei heißt es im englischen Original völlig deutlich "classical record industry". Und auf Englisch ist auch nicht vom "Fall" dieser Industrie die Rede, sondern noch drastischer von ihrem "shameful death" - also von ihrem "schändlichen Tod". Eine provokante These, die Norman Lebrecht da formuliert.

Von einer Krise des klassischen Tonträgermarkts hören wir zwar seit Jahren; statt im Supermarkt der Major-Labels bedienen sich Kenner immer öfter im Delikatessenladen à la Winter und Winter, ECM und Konsorten. Bei den exquisiten Kleinlabels habe die klassische Qualitäts-Konserve eine Zukunft wie eh und je, hoffen Optimisten. Norman Lebrecht glaubt das nicht - und erklärt die Klassik-CD rundheraus für tot.

Falsche Hoffnungen

"Der Körper der Klassikindustrie zuckte noch sporadisch und weckte bei jenen falsche Hoffnungen, die noch an der Lebenserhaltungsmaschine warteten", Statuiert er in einem "Post Mortem" überschriebenen Kapitel. Davor schildert er detailliert den Lebensweg der klassischen Tonträgerindustrie, beginnend mit einer Enrico-Caruso-Schellack, dem ersten Bestseller der Schallplattengeschichte.

Lebrecht ist ein packender Erzähler und hat in Jahrzehnten als prominenter Musikjournalist einen erstaunlichen Fundus an Insiderwissen angesammelt. Es regnet Pointen und Anekdoten, vor allem aber Fakten und Zahlen, die nie fad dahinklappern, sondern Zusammenhänge erschließen.

Die Väter und Mütter der Schallplatte

Lebrecht hat nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Klassik-Interpretation auf Schallplatte und CD verfasst. Er würdigt Väter und Mütter des Mediums, die heute nur mehr in Branchenkreisen bekannt sind.

Der Siegeszug der Klassikplatte stellt sich als ein Werk weitsichtiger, kreativer Produzenten, grenzgenialer Aufnahmeleiter und Tontechniker dar.

Wer hat Schuld am Niedergang?

Den Niedergang der Branche schreibt Norman Lebrecht vor allem der Branche selbst zu. Konzentration durch Firmenfusionen bis hin zum weltweiten Oligopol weniger Labels, Verschwendung in den Management-Etagen, Überproduktion mit immer den gleichen Titeln, ausufernde Gagenforderungen der Stars, Einzug kommerzbewusster Banausen in die Chefbüros - Lebrecht hält offenbar den Fall der klassischen Tonträgerkultur nicht für ein unausweichliches Schicksal, verursacht durch die allgemeine Fastfoodisierung des Globus. Sondern er stellt den Verdacht in den Raum, dass die Katastrophe so nicht passiert wäre ohne den Spieler-Leichtsinn und die geistige Verfettung gewisser Akteure.

Damit bleibt der Autor allerdings einen Teil der Erklärung schuldig; denn die soziologischen Gründe für die einstürzenden Klassik-CD-Umsätze streift er nur.

Pauschalierungen und Schwarzweiß-Malerei

Der Hauptgrund, warum das Buch einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, liegt aber woanders: Lebrecht neigt zu apodiktischen Äußerungen, Pauschalierungen, Schwarzweiß-Malerei und flapsigen Denkfiguren. Das vor allem in der zweiten Hälfte des Buches, wo er 20 Tiefpunkte und 100 Meisterwerke der Schallplattengeschichte darstellt.

Grob ungenaue Einschätzung
Über Pablo Casals’ Aufnahme von bachs Cellosuiten heisst es: "Casals, der auf der Bühne mit fest geschlossenen Augen spielte, verlieh der Musik eine spirituelle Dimension, die vom Komponisten vermutlich niemals beabsichtigt worden war." Ja aber - wenn in den Cellosuiten eine spirituelle Dimension liegt, dann kann man Bach wohl zutrauen, dass er das beim Komponieren selbst gemerkt hat.

Lebrecht bezeichnet etwa auch Pierre Boulez als "Asketen" - eine grob ungenaue Einschätzung, er nennt Orffs "Carmina Burana" süffisant ein "Unterhaltungsstück", und vieles mehr in dieser Tonart. Und wenn jemand Morton Feldmans fünfstündiges 2. Streichquartett als langweilig abqualifiziert, mit den Worten "brummt endlos weiter", dann ist bei mir persönlich der Ofen aus.

Kann man einem Autor, der im Detail so vorschnell urteilt, im Großen Glauben schenken? Man möchte es gerne - denn seine Story liest sich plausibel. Der Niedergang des Klassik-Tonträgermarks als wahnwitziger Intrigen- und Spekulantenkrimi - ob Lebrecht da übertreibt oder nicht, können letztlich nur Branchen-Insider beurteilen.

Buch-Tipp
Norman Lebrecht, "Ausgespielt - Aufstieg und Fall der Klassikindustrie", Schott, ISBN 9783795705930

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