Fast jeder ein Schriftsteller

Im Land der poetischen Sprache

Was für eine wunderbare Sprache, in der man so unfreundliche Dinge wie eine Radarfalle als "Gesetzüberwachungslichtbildmaschine - löggaeslumyndavélunum" kennt. Regt das nicht zum Wortebasteln an? Gibt es deshalb so viele Schriftsteller auf Island?

Nicht die Sprache ist der Grund für die sehr große schriftstellerische Szene in Island. Man muss, viel profaner, die langen, dunklen Winterabende dafür verantwortlich machen, die viel Zeit zum Erzählen, zum Lesen und zum Vorlesen lassen und der Literatur überhaupt bis heute eine zentrale Rolle in der Freizeitgestaltung zuweisen. Deshalb konnten in Island schon immer viel mehr Leute lesen als im übrigen Abendland, und deshalb gibt es auch überdurchschnittlich viele öffentliche Bibliotheken, gemessen an der Einwohnerzahl - dreihundertneuntausend und sechshundertneunundneunzig Isländer waren es am 1. April dieses Jahres, und sie bewohnen ein Territorium, das so groß ist wie Österreich und Niederösterreich noch mal dazu.

Und dann die große Zahl international bekannter Autoren und Autorinnen, beginnend mit dem Literaturnobelpreisträger 1955, Halldór Laxness, der lange Zeit als "Übervater" galt, und den Hallgrímur Helgason in seinem Roman "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" in eine seiner Geschichten hinein katapultiert hat und ihn als verrückten alten Mann, der noch dazu eigentlich tot ist, das antiquierte Leben eines entlegenen Dorfes miterleben lässt.

Dänischen Einfluss ausmerzen

Das alte Island ist längst nicht mehr Thema der Literatur, der Blick ist auf das Urbane gerichtet, auf die sozialen Auswirkungen der modernen Lebensweise, auf Jugendkultur und Computerzeitalter. Und das mit einer Sprache, die seit tausend Jahren, seit der Landnahme durch die norwegischen Wikinger, nahezu unverändert geblieben ist. Fast unverändert, denn die Dänen, die in Island von 1397 bis 1904 das Sagen hatten, prägten natürlich auch die tägliche Sprache. Die Sprache der Dichtung aber blieb unangetastet und wurde zur wertvollen Quelle, als sich die Isländer entschlossen, im Rahmen der Loslösung von Dänemark die Erinnerung an die dänischen Herrscher auch aus der Umgangssprache zu tilgen: Man rekonstruierte das alte Isländisch mit Hilfe der alten Sagas und anderer alter Schriftquellen.

Bis heute achtet man darauf, die Übernahme von Fremdwörtern möglichst zu vermeiden. Lieber setzt man aus vorhandenen Begriffen neue Worte zusammen. Das Wort für die Radarkamera - Gesetzüberwachungslichtbildmaschine - wurzelt, wenn man es genau untersucht, in den Wörtern "muns", sich erinnern, und "ljós", Licht. Und im isländischen Wort für Computer, "tölva", ist die Zahl "tala" mit der Seherin und Wahrsagerin "völva" vereint.

Der "Hinterhof Islands"

Als Autor kann man in Island also alleine mit dem provokanten Gebrauch von Anglizismen Aufmerksamkeit erregen, was tatsächlich in der jüngsten Literatur vorkommt. Noch provokanter war allerdings, was mit Einar Karason begonnen hat: Er war es, der den Isländern und in weiterer Konsequenz auch den Lesern anderer Länder den Hinterhof Islands zugänglich gemacht hat. Schroff, ironisch, skurril erzählt er von jugendlicher Rebellion, vom schmerzhaften Erwachsenwerden, von Verwahrlosung und Verelendung. Er spielt mit verschiedenen Stilen, flicht die allseits bekannten Mythen und Sagen ein und schuf so eine ganz eigene und sehr dichte Erzählweise.

Seine Themen waren auch für eine ganze Reihe weiterer Schriftsteller interessant, für den schon erwähnten Hallgrímur Helgason etwa, oder Einar Már Gudmundsson. Leichter lesbar und daher international bekannt wurde Kristín Marja Baldursdóttir. Sie wird wegen ihrer breit angelegten Frauengeschichten, die sie dennoch immer wieder stilistisch sprengt, geliebt. Ihren Roman "Die Eismalerin", in dem sie das Werden einer jungen Künstlerin schildert, bereichert sie mit sehr lyrisch angelegten Einschüben, in denen sie die entstandenen Bilder, Zeichnungen, Grafiken oder Stiche der jungen Frau beschreibt.

Sehnsucht nach der Kindheit

Die jüngsten Romane zeigen wieder die Sehnsucht nach dem Land, der Kindheit, der Freiheit, dem Nicht-Städtischen. Der Schauplatz von Jón Kalman Stefánssons erfolgreichen und auch von den Kritikern gelobten ersten drei Romanen ist ein entlegenes Dorf, und in seinem Roman "Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit" ruft er das Land der Kindheit wach. Ein Thema, das auch Gudbergur Bergsson reizte, wie in seinem Roman "Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit" nachzulesen ist.

Weniger paradiesisch verlief die Kindheit von Lilla, der Hauptperson im Roman Sonnenscheinpferd" von Steinunn Sigurdardottir, weshalb sie jede Erinnerung an früher auch mit Erfolg verdrängt hat. Doch dann trifft sie nach 25 Jahren ihre Jugendliebe wieder, und alles, alles wird wieder lebendig. Die Vernachlässigung, die Lieblosigkeit ihrer Mutter Ragnhild, der als Leiterin der Kinderstation im städtischen Krankenhaus ihre kleinen Patienten wichtiger als die eigenen Kinder. Die Unfähigkeit ihres Vaters Harald, der ebenfalls Arzt im Krankenhaus ist, seine Kinder emotional zu wärmen. Die fremden Frauen, die sich um Lilla und ihren kleinen Bruder Mummi kümmerten. Und die Überforderung: Lilla versuchte, nach dem Weggang von Magda den Haushalt alleine zu bewältigen - vergeblich natürlich. Und dann, nach so langer Zeit, scheint es einen neuen Anfang für sie zu geben, eine neue Liebe.

Eine Empfehlung zum guten Ende: Wer vor allem in einem heißen Sommer in das kühle Klima Island eintauchen möchte, ist mit den verschiedenen Anthologien sehr gut bedient: "Europa erlesen- Island" aus dem Wieser Verlag stellt das Land in Texten isländischer und ausländischer Autoren vor, "Flügelrauschen" aus dem Steidl Verlag lässt sieben Isländerinnen und Isländer zu Wort kommen. Und Halldór Laxness kann man in einem preiswerten Lesebuch erst mal kennenlernen, bevor man seiner Sprachmagie verfällt.

Service

Hallgrimur Helgason, "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", Verlag Klett-Cotta, ISBN 3608936521

Kristín Marja Baldursdóttir, "Die Eismalerin", Krüger Verlag, ISBN 381002561

Gudbergur Bergsson, "Vater, Mutter und der Zauber der Kindheit", Steidl Verlag, ISBN 978-3865211798

Jón Kalman Stefánsson, "Der Sommer hinter dem Hügel", BLT Verlag, ISBN 3404920716

Jón Kalman Stefánsson, "Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit", Reclam Verlag, ISBN 3379008672

Steinunn Sigurdardóttir, "Sonnenscheinpferd", Rowohlt

"Europa Erlesen - Island", Wieser Verlag, ISBN 3851292952

"Flügelrauschen. Erzählungen zeitgenössischer isländischer Autoren", Steidl Verlag, ISBN 3882437448

Halldór Laxness, "Lesebuch", Steidl Verlag, ISBN 3882432098

Steinunn Sigurdardottir
Island Reiseführer