Eine lebenslange Bindung

Geschwister

Von der frühesten Kindheit bis zum Tod prägen Vertrauen, aber auch Konkurrenz das Verhalten zwischen Geschwistern. Forschungen haben gezeigt, dass die Position in der Geschwistergruppe nachhaltig die individuelle Lebensgestaltung prägt.

Sie lieben sich, und sie hassen sich, trotzdem verbindet sie Solidarität und eine gemeinsame, lebenslange Geschichte: Geschwister. Die Ambivalenz der Geschwisterbeziehung begründet sich in der Rivalität um die Gunst der Eltern. Doch Rivalität fördert die Entwicklung. Neid und Rivalitätsgefühle sind für die Schweizer Psychoanalytikerin Katherina Ley zentral beim Aufbau der eigenen Identität. Sich zu vergleichen und sich abzugrenzen, sich zu behaupten und zu wehren, sind wesentliche Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung. Diese Verhaltensweisen werden mit den Geschwistern trainiert.

Sie gehören derselben Generation an und benutzen eine horizontale Kommunikationsebene in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft. Geschwister sind bedeutende Akteure bei der Entwicklung von Einfühlungsvermögen, Selbstbehauptung und Gemeinschaftsgefühl.

Geburtenrangplatz entscheidet

In der Psychologie wurde die Bedeutung der Geschwisterbeziehung relativ spät entdeckt. Im Schatten der Psychoanalyse Sigmund Freuds konzentrierte sich das wissenschaftliche Interesse auf die Eltern-Kind-Beziehung und den ödipalen Konflikt.

Erst Alfred Adler untersuchte eine mögliche Verbindung zwischen Geburtenrangplatz und den Eigenschaften eines Individuums. Der Begründer der Individualpsychologie ging davon aus, dass der Charakter eines Menschen entscheidend durch die Position geprägt wird, die er in der Geschwisterreihe in seiner Herkunftsfamilie innehält.

Glückliche Nesthäkchen

Schwierig ist vor allem die Position des oder der Ältesten, denn er oder sie muss die Privilegien des Einzelkindes abgeben und die Aufmerksamkeit der Eltern mit dem jüngeren Geschwisterkind teilen. Alfred Adler spricht von einem Entthronungstrauma, das sich in aggressiven und misstrauischen Äußerungen vor allem gegenüber der Mutter artikuliert.

Bei Mehrkindfamilien, da sind sich Psychologinnen und Psychologen einig, haben "Sandwichkinder" die meisten Nachteile zu tragen, denn sie können die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern am wenigsten genießen.

Die Position der Jüngsten scheint hingegen vom Glück begünstigt. Zahlreiche Märchen berichten davon, dass der jüngste Prinz die Schwierigkeiten überwindet, den Drachen tötet und zum Lohn die Prinzessin für sich gewinnt. In der Sprache der Psychologie sind das Eigenschaften autonomen Handelns. Die Eltern haben ihre unbewussten "Aufträge" an ihre älteren Kinder bereits vergeben. Die Erst- und Zweitgeborenen sollen die Wünsche der Eltern erfüllen, deren Ehrgeiz befriedigen. Das jüngste Kind habe den größten Spielraum zur individuellen Entfaltung, so der Münchner Psychologe Hartmut Kasten.

Geschlechterrollen

Das Geschlecht des Geschwisterkindes prägt generell das Rollenverhalten des einzelnen. Mädchen, die mit Brüdern aufwachsen, verhalten sich weniger rollenkonform, ebenso Buben, die mit Mädchen aufwachsen. Eine Abweichung vom Geschlechterrollenverhalten nütze der Kreativität, so Hartmut Kasten, denn jemand, der ungewöhnliche Wege bei der Lösung eines Problems beschreite, werde als kreativ eingestuft.

Buben, so haben Forschungsergebnisse gezeigt, werden von älteren Schwestern gefördert. Für Mädchen ist der ältere Bruder jedoch oft belastend. Ist die andersgeschlechtliche Geschwisterreihe jedoch zu zahlreich, betonen die "einzigen" ihre Zugehörigkeit zum eigenen Geschlecht.

Komplexe Muster

Im jungen Erwachsenenalter schaffen Geschwister zwischen sich Distanz. Die Partnerwahl und der eigene Lebensentwurf bestimmen das Handeln. Mit zunehmendem Alter jedoch nähern sich die Geschwister wieder an. Die Betreuung der alten Eltern und deren Tod sind Ereignisse, die frühkindliche Erfahrungen aktualisieren. Neben Vertrautem werden auch Konflikte wieder wachgerufen.

Forschungen haben gezeigt, dass die Position in der Geschwistergruppe nachhaltig die individuelle Lebensgestaltung prägt. Die Qualität der Geschwisterbindung beeinflusst die Partnerwahl, aber auch die Teamfähigkeit im Berufsleben. Geschwisterbeziehungen sind individuell. dennoch gestalten sie sich nach Regeln, die komplexe Muster aufweisen. Bestimmt wird das Verhältnis unter den Geschwistern vom kulturellen Umfeld ihrer Familien und dem Geschick der Eltern, das familiäre Zusammenleben zu gestalten.