Geschichte ist ein Teil unserer Gegenwart

Die Stimmen des Flusses

Was ist Geschichte und wie entsteht sie? Diese Frage macht den Kern des Romans "Die Stimmen des Flusses" aus, den der katalanische Autor Jaume Cabre im Jahr 2004 veröffentlichte und der jetzt auf Deutsch erschienen ist.

Geschichte, so lesen wir das bei Jaume Cabre, ist ein ideologisches Artefakt. Einen niederschmetternden Befund gibt er ab: Geschichtliche Wahrheit ist nicht zu haben. Geschichtsschreibung ist eine angewandte Form literarischen Erzählens. Und weil das so ist, verwendet Cabre die so nach Freiheit drängende Form des Romans dazu, um Kritik zu üben an den Versuchen, historische Prozesse fein säuberlich in ein System zu zwängen. Alles, was einmal gelebt hat, ist vielschichtig und widersprüchlich, die Historiker haben deshalb ihre liebe Not mit den Menschen.

Doppelleben

Wir befinden uns in einem Pyrenäendorf im Jahr 1944. Es ist fest in faschistischer Hand, und aus den Bergen statten Anarchisten, Kommunisten und Widerstandskämpfer den Bewohnern immer wieder ihre unerwünschten Besuche ab. Die Lage ist klar und eindeutig. Jeder weiß vom anderen, auf welcher Seite er steht, und noch Jahrzehnte später, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, trennen politische Gräben die Dorfbewohner.

Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs kommt ein Lehrer, Oriol, mit seiner Frau ins Dorf. Er steht angeblich treu in Diensten der Machthaber, deshalb steht ihm ein wuchtiger Grabstein zu, und eine Straße wird nach ihm benannt. Die reichste Frau weit und breit, mächtig und einflussreich, betreibt auch noch seine Seligsprechung. Sein Name, so argumentiert sie, darf nicht vergessen werden, zumal sie als Augenzeugin seinen heldenhaften Tod ansehen musste, als ihn Freischärler in der Schule ermordeten.

Viele Jahrzehnte später findet eine Lehrerin, unberührt von den Ereignissen dieser grauen Vorzeit, Aufzeichnungen Oriols, in denen er von seinen heimlichen Untergrundaktivitäten berichtet. Der Mann, der selig gesprochen werden soll, ein Anarchist und Atheist?

Liebe und Verrat

Eine einfache Wahrheit gibt es bei Cabre nicht. Schon die Form des Romans widersetzt sich ihr. Er springt durch die Zeiten, was den Sinn hat, das Heute nicht als eine logische Folge der Vergangenheit in ihr Recht zu setzen, sondern Mischzustände zu erzeugen. Seine Figuren leben im Heute, aber alles, was sie denken, was sie fühlen, was sie tun, hat seinen Grund im bislang gelebten Leben.

Geschichte wirkt bei Cabre wie ein langsam sickerndes Gift, das sich Menschen zurichtet. Dass der Einzelne der Souverän über sein Leben sei, tut er als hübsche Fiktion ab. Die Erfahrungen drängen sich zur Unzeit vor und steuern all sein Tun. Jede noch so unspektakuläre Biografie ist davon betroffen. Man beachte nur die Lehrerin Tina Bros. Sie verkörpert den Durchschnittsmenschen. Gemeinsam mit ihrem Mann hat es sie ins Pyrenäendorf verschlagen. Jetzt ist sie verbittert, weil sie meint, ihr Mann habe ihr die Treue aufgekündigt. Und ständig suchen sie Szenen von damals heim, als sie zusammen ein starkes Team abgaben. Ihre Rachegefühle kommen aus der Verletzung der Seele. Liest sie deshalb Geschichte anders als eine, die sich im Wohlgefühl sonnt, behütet zu sein?

Eine Geschichte von Liebe und Liebesverrat hat sich auch damals, 1944, abgespielt. Geht dieser Fall Tina Bros deshalb so nahe? Oriol betrieb ein Doppelspiel. Er gab sich als Faschist und gewann so die Liebe der schönen reichen Frau aus dem Dorf. Er paktierte mit den Widerstandskämpfern und wollte so seiner Frau imponieren, die ihn als Feigling verlassen hatte. Ist vielleicht Liebe jener Impuls, der Geschichte in Gang setzt und sie verändert?

Ideen und Ideale

Cabres Roman ist als Geschichtsschreibung aus dem Zentrum der Gefühle zu lesen. Es treten Ideologien gegeneinander an, aber sie spielen keine Rolle in den Motiven der handelnden Personen. Sie wissen kaum etwas von den großen Ideen, die ihre Zeit bewegt. Sie sind Faschisten, weil es gerade von Vorteil ist, oder Gefühlssozialisten. Sie sind triebgetrieben, vom Stolz bewegt, von Neid zerfressen, von Hass gequält, aufgewühlt von Liebe, blind vor Rache und zermürbt von Sorge. So werden sie zu Handlangern von Ideen und Idealen, die sie eigentlich in diesem gottverlassenen Dorf nichts angehen. Sie sind einfache Leute, die keine Wahl haben, über die der Zug der Zeit hinwegbraust.

Im Stillen machen sie sich ihre Gedanken, wie der Steinmetz, der ein heimlicher Moralist ist, aber das bleibt ohne Folgen. Die Weltgeschichte macht Station in der Provinz mit katastrophalen Folgen. Misstrauen und Zwietracht sind eingekehrt in die Gesellschaft, und die Gewalt ist selbstverständlich geworden.

Literatur über den Tag hinaus

Jaume Cabre hat einen wichtigen Roman geschrieben, der den Zweifel schürt an der Geschichtsschreibung. Eine, nämlich Tina Bros, ist nahe, wenn schon nicht an der Wahrheit, dann an der korrigierten Fassung einer absichtsvoll gefälschten Vergangenheit. Sie kommt damit nicht durch. Ihre Belege dafür werden vernichtet und sie selbst stirbt an Krebs. Jaume Cabre, das ist Literatur, die über den Tag hinaus lebt.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 7. Oktober 2007, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Jaume Cabre, "Die Stimmen des Flusses", aus dem Katalanischen übersetzt von Kirsten Brandt, Insel Verlag