Meisterwerk des modalen Jazz

Kind of Blue

In wenigen Stunden entstand eines der schönsten und einflussreichsten Jazzalben der Musikgeschichte: "Kind of Blue" mit Bandleader Miles Davis. Das meistverkaufte Jazzalbum, ein Meisterwerk des modalen Jazz, weist eine skurrile Besonderheit auf.

"So What" aus dem Album "Kind of Blue"

New York im März 1959: Sieben junge Männer, die beiden ältesten sind knapp über 30 Jahre alt, betreten eine Kirche in Manhattan, die als Tonstudio dient. Zu diesem Zeitpunkt wissen die meisten noch nicht, was sie in den nächsten Stunden spielen werden, im Studio erst erhalten sie kleine Skizzen für ihre Improvisationen.

In zwei mal drei Stunden, und dann - ein paar Wochen später - noch einmal in zwei weiteren Stunden - entsteht hier eines der schönsten und einflussreichsten Jazzalben der Musikgeschichte: "Kind of Blue" mit Jimmy Cobb am Schlagzeug, Paul Chambers am Bass, Bill Evans am Klavier, Julian "Cannonball" Adderley Alt-Saxofon, John Coltrane Tenorsaxofon und Bandleader Miles Davis, Trompete.

Bill Evans im Zentrum

Der einzige Weiße in diesem Sextett war Bill Evans. Evans war zum Zeitpunkt der Aufnahme von "Kind of Blue" nicht mehr offizielles Mitglied der Gruppe, mit der er im Frühjahr und Sommer 1958 zusammen gespielt hatte. Aber er wurde von Miles Davis extra für die Studioaufnahme geholt.

Auf vier der fünf Titel ist er am Klavier zu hören. Um sein impressionistisch orientiertes Klavierspiel herum wurde "Kind of Blue" von Miles Davis konzipiert. Evans wird spätestens mit diesem Album stilbildend und beeinflusst eine ganze Generation von Pianisten wie Herbie Hancock, Chick Corea und vor allem Keith Jarrett.

Modaler Jazz

Beispielhaft ist sein Solo in "All Blues": Es beginnt unspektakulär. In der Mitte seines Solos geht Evans den modalen Weg, in dem er im "locked hands"-Stil spielt, d. h. die Finger nicht bewegt, während er die Hände hin und her über die Tasten gleiten lässt. Danach kehrt die Band zum "All Blues" Thema zurück.

"Kind of Blue" gilt als das Album des "modalen" Jazz schlechthin. Beim modalen Jazz verläuft die Improvisation der Solisten auf wenigen, über weite Strecken ausgehaltenen Skalen, also Tonleitern.

Neue Formen, minimalistische Tonfolgen

Während früher, bei den Jazz-Soli der Bepob-Zeit, komplizierte Akkordfolgen und artistische Phrasierungen üblich waren, ermöglichte der modale Jazz neue Formen der musikalischen Spannungsbögen, brachte erstmals karge, minimalistische Tonfolgen.

Vor der Produktion von "Kind of Blue" sagte Miles Davis in einem Interview, er wolle dass die Musik, die diese Gruppe spielt, freier sei, modaler, afrikanischer oder östlicher und weniger westlich.

Die modale Spielweise verlangte auch neue Kompositionen. Man konnte die vertrauten Jazznummern nicht einfach modal interpretieren.

Das meistverkaufte Jazzalbum

Warum ist "Kind of Blue" mit sechs Millionen Exemplaren das meistverkaufte Jazzalbum? Warum ist "Kind of Blue" auch so bedeutsam? Wegen seiner Subtilität, seiner Klarheit, seiner Tiefe. Schwerelos sei diese Musik, schlicht, pur, schön, hochkonzentriert und äußerst relaxed. Das sind damals wie heute seltene Wirkungen von Musik.

Die Entstehung von "Kind of Blue" hat der amerikanische Musikjournalist Ashley Kahn dokumentiert, er bekam vor einigen Jahren die Möglichkeit, die Originalbänder der Studiosessions nachzuhören. Beeindruckt beschreibt Ashley Kahn wie entspannt, konzentriert und schnell die Gruppe dieses Album einspielen konnte.

Reduzierte technische Mittel

Die technischen Mittel waren reduziert - sieben Mikrofone, drei Tonspuren, die "Mischung", also die relative Lautstärke der einzelnen Stimmen der Band zueinander, ergab sich hauptsächlich durch die Anordnung der Musiker im Studio.

Defekte Bandmaschine
"Kind of Blue" weist zudem eine skurrile Besonderheit auf: Die ersten drei der fünf Titel wurden auf einer Bandmaschine aufgenommen, die einen technischen Defekt hatte und geringfügig langsamer lief.

Kopiert wurde aber von einer funktionierenden Maschine. Die Folge: Auf allen Platten und CD-Kopien von "Kind of Blue", die vor 1992 veröffentlicht wurden, ist die Musik der ersten drei Titel ein wenig nach oben transponiert.

Mitkomponist Bill Evans
Erst nach drei Jahrzehnten bemerkte man in der Plattenfirma das Mischgeschick. Auf den Plattencover und CD-Covers von "Kind of Blue" werden alle Titel als Miles Davis Kompositionen ausgewiesen, aber man ist sich mittlerweile darüber ziemlich einig, das der Pianist Bill Evans neben "Flamenco Sketches" auch bei "Blue in Green" als Mitkomponist zu führen wäre.

Auf der Rückseite der Plattenhülle von "Kind of Blue" kann man einen Text von Bill Evans über "Improvisation im Jazz" lesen. Evans beginnt mit einem Hinweis auf die Kunst der japanischen Tusch-Malerei. "Wer zu sehen versteht, wird darin etwas eingefangen finden, das sich der Betrachtung entzieht".

Über das Improvisieren
Evans schreibt in seinem Text auch über die Probleme und Erfordernisse von Improvisation in einer Gruppe.

Abgesehen vom gewichtigen, sozusagen "technischen" Problem des gemeinsamen, schlüssigen Denkens, gäbe es bei Improvisationen die menschliche, ja sogar soziale Notwendigkeit füreinander Verständnis, Wohlwollen, Sympathie aufzubringen, um sich dem gemeinsamen Ziel unterordnen zu können.

Und dies, das normalerweise schwierigste Problem, so Evans, sei bei diesen Aufnahmen aufs Schönste gelöst.

Buch-Tipp
Ashleys Kahn, "Kind of Blue - Die Entstehung eines Meisterwerks", aus dem Englischen übersetzt von M. Hein, Verlag Zweitausendeins

Link
Miles Davis