Zeit des Umbruchs
Zwischen den Gezeiten
Michael Wallners neuer Roman ist ein unkomplizierter Text, der sich aber dennoch alles andere als banal präsentiert. Wie nebenbei wird eine Umbruchszeit der deutschen Geschichte - die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg - in all ihren Facetten beleuchtet.
8. April 2017, 21:58
"Zwischen den Gezeiten" spielt in einer Zeit des Umbruchs. Der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei und die junge Norddeutsche Inga hat eine Stelle als Sekretärin bei den britischen Besatzern gefunden. In einem Lazarett lernt sie den Offizier Alec Hayden kennen, einen rätselhaften Mann, dessen Aura der Unnahbarkeit Inga fasziniert. Schon bald begreift sie, dass Hayden in Wahrheit nur eine Leidenschaft kennt: das Spiel. Und als er sie zu seiner Kartenrunde mitnimmt, greift die Begeisterung schnell auch auf Inga über.
Aus Spiel wird Sucht
Inga bemerkte die eigene Müdigkeit, heiße Füße in den Schuhen, klebrige Haut. Trotz der Wärme in der Baracke fröstelte sie, hatte Durst, doch es gab kein Wasser. Als die Schnapsflaschen leer waren, schickte der Brillenträger den mit dem Bärtchen zum Auto; er kam mit zwei vollen zurück. Inga zog die Beine an, nahm die Spange aus dem Haar und schüttelte den Kopf; bei aller Erschöpfung wollte sie nicht, dass es aufhörte. Trotz seiner Ruhe war dem Leutnant die Begeisterung anzumerken. Die Überheblichkeit, die er sonst an den Tag legte, seine unangenehme Herablassung, waren verschwunden. Spielt wie der Teufel, dachte Inga und beobachtete, wie die weißen Finger die nächste Partie austeilten.
So oft wie möglich nimmt Inga an diesen Abenden teil, wird selbst süchtig nach den Karten, verspielt mehr und mehr Geld und verpfändet heimlich die Wertsachen der Eltern, um ihre Schulden begleichen zu können. Michael Wallner setzt dabei das Kartenspiel ganz bewusst als Gleichnis für die Nachkriegszeit ein - eine Zeit der Unsicherheit, in der nichts mehr verlässlich erscheint.
Geschichte einer Leidenschaft
Gleichzeitig hat der Roman aber noch eine andere Ebene. Während Inga immer tiefer in die seltsam gespannte Atmosphäre des verbotenen Glücksspiels eintaucht, wird sie auch mit der Vergangenheit ihres eigenen Vaters konfrontiert. Als Bahnhofsvorsteher schickte er zahlreiche Züge zu den Konzentrationslagern und plötzlich wird Inga bewusst, dass er weit mehr war als nur ein Mitläufer, dass er auch zu den Tätern gehörte.
Dennoch hat Michael Wallner keinen Aufarbeitungsroman geschrieben. "Zwischen den Gezeiten" ist in erster Linie ein Liebesroman, die Geschichte einer Leidenschaft, für die Inga einen hohen Preis zu zahlen bereit ist. Inmitten einer gespannten Atmosphäre aus Misstrauen und Geheimnissen folgt sie Alec Hayden in sein Spielerleben und ist am Schluss sogar bereit, alles was sie hat, für ihn aufzugeben.
Erst an diesem Punkt scheint Hayden endlich zu erwachen, zu erkennen, was Inga ihm tatsächlich bedeutet - und erst jetzt zeigt sich, dass auch er fähig ist, Gefühle zu empfinden und über sich selbst hinauszuwachsen.
Eloquent und unterhaltsam
Michael Wallner benutzt die Zeit, in der sein Roman spielt, als bloßen Bühnenhintergrund - nicht um Vergangenheitsbewältigung geht es ihm. Ein wenig hat der Autor auf tatsächliche Begebenheiten zurückgegriffen - Begebenheiten aus seiner Familie und seinem Bekanntenkreis, die er in seiner Geschichte verarbeitet hat, ohne freilich einen autobiografischen Roman zu verfassen.
Nur eineinhalb Jahre dauerte Wallners Arbeit an seinem Buch und vielleicht ist es diese Schnelligkeit, die dem Text seinen Reiz verleiht - einem unkomplizierten Text, der sich aber dennoch alles andere als banal präsentiert. Wie nebenbei wird eine Umbruchszeit der deutschen Geschichte in all ihren Facetten beleuchtet. Flüssig und ohne Brüche fließt der Roman dahin, ein eloquenter und unterhaltsamer Roman, dem es dennoch nicht an Tiefe fehlt. Hinter der bewegenden Handlung versteckt sich freilich eine durchaus ernste Botschaft - eine Botschaft, die sich unaufdringlich zwischen den Zeilen verbirgt und erst nach der Lektüre ihre ganze Wirkung entfaltet.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Michael Wallner, "Zwischen den Gezeiten”, Luchterhand Literaturverlag
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Luchterhand Literaturverlag - Zwischen den Gezeiten