Knappe Prosa in gehobenem Ton

Die Unbeholfenen

Mit den "Unbeholfenen" ist der einstige Theaterliebling der 1980er/90er Jahre Botho Strauß wieder ganz in seinem Element: 123 Seiten knappe Prosa in einem gehobenen Ton, deren neoklassizistischer Anmut aber nie ziseliert wirkt.

In den nächsten Minuten war mit irgendeinem ärgerlichen Zwischenfall zu rechen, auf den dieses Familienleben zusteuerte - wie alle anderen auch.

Es ist einer der schönsten Schlusssätze der zeitgenössischen deutschen Literatur, mit dem Botho Strauß den Leser seiner "Bewusstseinsnovelle" "Die Unbeholfenen" entlässt - und an den Anfang zurückschickt. 123 Seiten knappe Prosa in einem gehobenen Ton, der zwar mitunter ins Geschwollen-Gestelzte kippt, deren neoklassizistischer Anmut aber nie ziseliert und butzenscheibenartig wirkt.

Das Haus

Auf ein "unerhörte Ereignis", dessen Darstellung die Novelle per definitionem sein soll, wartet man vergeblich, wenn sich der Icherzähler zum Schauplatz "in einem öden Gewerbepark" am Stadtrand aufmacht, um seine neue Freundin zu besuchen.

Zumindest der Ort des Geschehens entspricht der seit Boccaccio klassischen Forderung nach Abgeschlossenheit: Es ist ein Haus, das "seinen jetzigen Bewohnern je nach Laune für das einstige Domizil einer zu Wohlstand gelangten Wahrsagerin oder gar für das Haus des Scharfrichters außerhalb der Stadtmauern galt".

Die Bewohner

Dramatis personae: vier Geschwister und zwei Besucher – in "lebendiger Gemeinschaft", bewusst abgeschieden von der Umwelt. Da ist einmal der ältere Bruder Albrecht - knapp über dreißig, dessen verkrüppelter Oberkörper dem Erzähler auf Anhieb so vertrauenswürdig erscheint, "dass ich am liebsten schon jetzt bei ihm Zuflucht gesucht hätte". Er sitzt im Rollstuhl:

Gemüt und Charakter verliehen ihm eine männliche Schönheit, wie man sie bei normal Gewachsenen, unter denen sich die eigentlich verbildeten und behinderten Männer unserer Zeit befinden, nur selten findet.

Da sind die knapp über 20-jährigen Zwillingsschwestern Ilona und Elena, die eine taub, die andere dauernd damit beschäftigt, SMS zu verschicken. Mit unübersehbar sexuellen Untertönen drücken sie dem Besucher die Hand, "als wünschten sie den ganzen Menschen unter Vertrag zu nehmen". Da sind die 27-jährige Nadja, die neue Freundin, sowie deren Exfreund Romero, ein typisch Straußischer "zungenschneller Lästerer".

Auf Seite 34 erfahren wir den Namen des Erzählers, der ganz am Ende der Geschichte auch seinen Beruf verrät: "Traumdeuter", ein Berater von Firmenberatern, zuständig für die ganz großen Wahrheiten: Florian Lackner.

Das Gespräch

Florian Lackner! - Wir werden uns auf diese Etage zurückziehen, um einander zu lieben wie andere Paare auch. Es kommt nur darauf an, dass die Kraft der Umarmung niemals die Kraft der Sympathie übersteigt".

Nadjas manierierter Aufforderung wird - bis zu einer überraschenden Schlusswendung - nicht nachgekommen, stattdessen entfaltet sich in der theatralischen Prosaanordnung ein umfassendes Gespräch: Die Chemie der Beziehungen und die Kräfteverhältnisse der Sprecher bleiben dabei immer ausgewogen. Geredet wird über Gott und die Welt, über die Liebe und deren Gründe.

Wir sind als Einzelmenschen wie als Geistfiguren Endstationen.

Um so hehrer kann über Sex und Jeans, über "die schönsten Frauen" (die, "die mit Verachtung begabt" sind), über Scham und Nacktheit, über Paul Valery und den "Einbruch des Herzens in den Stumpfsinn des Verstands" schwadroniert werden. "Wir sprechen, um einander zu sagen, wohin der Weg führt", heißt es einmal. Wohin es geht, wird nicht verraten, das ist der große Trick und Kunstkniff des Erzählers.

Die Kritik

Mit den "Unbeholfenen" ist der zum kulturkritischen und pessimistischen Seher mutierte einstige Theaterliebling der 1980er/90er Jahre Botho Strauß wieder ganz in seinem alten Element der konservativen Revolution. "Die Unbeholfenen" bewegen sich wie in langen Regieanweisungen voran und bekommen - von innen und außen mitunter fast umständlich beschrieben - immer mehr den Charakter von Marionetten. Sind es reale Figuren, ist es ein Traum des Erzählers, der da wortreich ausgebreitet wird?

Es ist Botho Strauß' meisterlicher Beherrschung von Dialogen und Dramaturgie zu verdanken, dass die überhöhten Partygespräche nicht in Gebrabbel verkommen und das Dauerklagethema, die Rede von dem einen großen, verbindlichen und sinnstiftenden Symbol in erzählerischem Schwung bleibt. Das formale Zerbrechen der Erzählung und deren Wendung ins Fantastisch-Surreale schließt Strauß in mehrfacher Schlusswendung ab - die der Zyniker Romero kaltschnäuzig mit einem doppeltem "Scheißdenken" beendet.

Botho Strauß meinte einmal über Rilke, dessen Erzeugung großer klarer poetischer Bilder werde durch den übermäßigen Gebrauch von Kitsch hervorgebracht, ja jene setzten diesen eigentlich voraus: In "Die Unbeholfenen" bezahlt er diesen Preis nicht nur ziemlich selbstbewusst, was er an literarischer Zeitdiagnose zustande bringt, macht ihm so schnell niemand nach.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 7. Dezember 2007, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 9. Dezember 2007, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Botho Strauß, "Die Unbeholfenen. Bewusstseinsnovelle", Hanser Verlag