Das Weiterleben einer Tradition

Vom Gerichtswert des Feuers

Wie beweist man seine Unschuld? Wenn das Schreiten über glühende Kohlen oder das Ablecken eines glühenden Eisentopfs keine sichtbaren Spuren hinterlässt. In allen Kulturen galt: Wer die hautnahe Begegnung mit Feuer überlebt, ist unschuldig.

Manchmal hört man noch jemanden sagen: "Für den lege ich meine Hand ins Feuer!"; ein sprachlicher Überrest, der an eines der alten Gottesurteile erinnert, mit deren Hilfe man die Wahrheit herausfinden wollte. Die verschiedensten Begegnungen menschlicher Haut mit Glut und Feuer, die sogenannte Feuerprobe, war in den schriftlosen Zeiten verschiedenster Völker üblich.

Die Wikinger, die Germanen, die Angelsachsen setzen dieses Mittel als letzte Möglichkeit ein, Unschuld oder Schuld zu beweisen, wobei der Proband barfuß über sechs oder zwölf glühende Schwerter oder Pflugscharen gehen musste. Auch das Tragen glühender Gegenstände über eine gewisse Strecke war üblich, zum Beispiel in Kamerun bei den Bakosi. Und immer galt: Hinterließ die Glut Verletzungen, war die Schuld erwiesen, gab es keine Spuren, war der oder die Beschuldigte unschuldig und daher frei, denn Feuer galt in allen Völkern als Träger besonderer Kräfte und Fähigkeiten.

Auch im Märchen

Später, in den dunklen Jahren der Hexenjagd und noch viel später, ging die spirituell-religiöse Seite dieses "Instruments" verloren und wurde zur reinen Folter - was sich auch in den Märchen zeigt: Die böse Stiefmutter-Königin muss sich am Ende eines Grimm'schen Märchens auf glühenden Kohlen zu Tode tanzen. Erfahren das die Kinder noch?

Eigene Familie betroffen

Die Sitte der Feuerprobe ist im alten Sinn im arabischen Kulturkreis noch lebendig, und zwar nicht nur bei den Nomaden. Der aus dem Negev stammende Schriftsteller Salim Alafenisch hat sich mit dem Weiterleben dieser Tradition beschäftigt, auch, weil seine Familie von einer "Feuerprobe" betroffen war.

Zunächst: Eine Feuerprobe läuft nach strengen Regeln ab und kann nur an bestimmten Orten und von den Feuerprobenrichtern durchgeführt werden. Dieses Richteramt ist erblich. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ein halbes Dutzend Feuerprobenrichter, heute ist ihre Anzahl geringer, Alafenisch berichtet von zweien. Einer residiert in der Gegend von Ismaylia, der andere in Saudi-Arabien im Hedjaz.

Eisen im Feuer

Der Ursprung der Feuerprobe, so erzählt einer der beiden "Mubasch", geht auf den Traum eines Urvaters zurück. Wie in seiner Traumvision ließ er in Anwesenheit aller ein Stück Eisen ins Feuer legen und leckte dann das rot glühende Stück dreimal ab. Der Beschuldigte musste ebenso verfahren. Danach spülten beide ihren Mund mit Wasser, und der Urvater sagte zu den Anwesenden: "Schaut unsere Zungen an. Die Zunge dessen, der die Wahrheit sagt, ist unversehrt. Die Zunge des Lügners trägt ein Zeichen."

Aufsehen erregte diese Rechtspraxis, als die Familie Alafenisch aufgefordert wurde, ihre Vereinbarung einzuhalten. Nachdem sie 1967 beschuldigt wurde, einen Mörder zu decken, aber auf Grund der politischen Situation nicht zu dem Feuerprobenplatz in den Sinai reisen konnte, forderte der klagende Stamm 1980, als die Grenzen wieder offen waren, die Einhaltung der Vereinbarung. Das ist die Geschichte, die dem Buch "Die Feuerprobe" von Salim Alafenisch zu Grunde liegt.

Feuerprobe oder Pilgerfahrt?

Alafenisch erzählt auch noch von einem anderen Fall: Ein ägyptischer Beamter kam zum Mubasch. Er werde vom Verdacht geplagt, dass ihn seine Frau, mit der er seit 20 Jahren glücklich zusammen lebe, betrüge. Er wolle nach folgendem Text die Feuerprobe machen: "Ich unterziehe mich der Feuerprobe, dass meine Frau keinen Ehebruch begangen hat. Sollte ein Freispruch erfolgen, werden meine Frau und ich unser Leben in Ruhe weiterführen. Sollte das Urteil auf schuldig lauten, soll jeder von uns in Frieden seinen eigenen Weg gehen. Ich werde die Scheidung einreichen, ohne den Grund publik zu machen."

Der Mubasch dachte eine Weile nach, dann schlug er dem Mann vor, die Pilgerfahrt zu unternehmen, die Herz und Seele reinigen würde. Aber so lange wollte der Beamte nicht warten. Was meinen Sie? War sie unschuldig?

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 24. Jänner 2008, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Salim Alafenisch, "Die Feuerprobe", Unionsverlag

Link
Unionsverla - Der Stellenwert der Feuerprobe im Gewohnheitsrecht der Beduinen (PDF)