Das gemeinsame Schicksal verbindet
Mostar, mon amour
Mostar, die Stadt am Fluss Neretva, war bekannt für seine schöne Brücke aus der osmanischen Zeit. Nach dem Krieg der Jahre 1991-1995 wurde die zerstörte Brücke wieder aufgebaut, doch Mostar blieb getrennt zwischen Kroaten, Bosniern, Christen und Muslimen.
8. April 2017, 21:58
"Wer in Sarajevo die Nacht durchwacht, kann die Stimmen der Nacht von Sarajevo hören. Schwer und sicher schlägt die Uhr an der katholischen Kathedrale: zwei nach Mitternacht. Es vergeht mehr als eine Minute (ich habe genau 75 Sekunden gezählt), und erst dann meldet sich, etwas schwächer, aber mit einem durchdringenden Laut, die Stimme von der orthodoxen Kirche, die nun auch ihre zwei Stunden schlägt. Etwas später schlägt mit einer heiseren und fernen Stimme die Uhr am Turm der Beg-Moschee, sie schlägt elf Uhr, elf gespenstische türkische Stunden, die nach einer seltsamen Zeitrechnung ferner, fremder Gegenden dieser Welt festgelegt worden sind. Die Juden haben keine Uhr, die schlägt, und Gott allein weiß, wie spät es bei ihnen ist. wie spät nach der Zeitrechnung der Sepharden und nach derjenigen der Aschkenasen. So lebt auch noch nachts, wenn alle schlafen, der Unterschied fort, im Zählen der verlorenen Stunden dieser späten Zeit."
Dieses Zitat des bosnischen Autors und Nobelpreisträgers des Jahres 1961, Ivo Andric, wurde für meinen Kollegen Nikolaus Scholz und mich der Ausgangspunkt in unserer Suche nach den Stimmen von Mostar. Obwohl Ivo Andric in seinem Text "Brief aus dem Jahre 1920" über Sarajewo schrieb, fanden wir beide, dass gerade Mostar für eine "Tonsuche" heutzutage geeigneter ist, als es Sarajewo im Jahr 1920 war.
Sarajewo ist - vielleicht auch wegen starker Präsenz der internationalen Organisationen in der Stadt - nach dem Krieg die Hauptstadt von ganz Bosnien-Herzegowina und all seiner Völker geblieben. Mostar dagegen lebt heute als geteilte Stadt. Die Menschen von Mostar reden immer über "diese Seite" oder über die "andere Seite". Damit sind der "moslemische" und die "kroatische" Teil der Stadt gemeint.
Das Minarett und der Kirchenturm
Wir wollten die "Unterschiede" dieser "Seiten" oder "Teile" hörbar machen. Und, tatsächlich, kaum hat man die Stadt betreten, hört man - nahezu klischeehaft - den Gebetsruf des moslemischen Muezzins und den Glockenklang der katholischen Kirchen.
In Mostar haben die bosniakischen Moslems auf ihrer "Seite" direkt gegenüber dem hohen Turm der katholischen Kathedrale, die selbstverständlich auf der kroatischen "Seite" steht, ein großes Minarett errichtet. Die Lautsprecher sind nicht, was man annehmen dürfte, in die Richtung der moslemischen Gemeinde gerichtet, sondern sie senden ihre Rufe an die Katholiken. Die Kroaten sind auch nichts schuldig geblieben, und haben am Berg, der sich über Mostar erhebt, ein riesiges Kreuz errichtet, das "den anderen" immer als ein Zeichen dienen sollte, wer hier die Oberhand hat.
Bei der Arbeit an unserem Radiofeature stellte sich bald heraus, dass sich die Tonaufnahmen aus beiden Teilen der Stadt mehr und mehr anglichen. Man kann in den Geräuschen keine Unterschiede zwischen dem linken, moslemischen Teil der Stadt und dem rechten, kroatischen Teil der Stadt erkennen. Links und Rechts bedeutet in Mostar, sich entweder am linken oder rechten Ufer des Flusses Neretva zu befinden.
Die Geschichten
Die Hauptstraßen beider Seiten tönen gleich. Man kann nicht nach ihren Geräuschen auf verschiedene Kulturen schließen. In unseren Spaziergängen durch Mostar haben wir uns mehr und mehr auf Gespräche mit den Bewohnern von Mostar konzentriert. Wir sprachen mit ihnen und sind Zeugen ihrer traurigen Schicksale in dem Krieg, der fast die ganze Stadt zerstört hat, geworden. Wir hörten berührende Geschichten der Menschen, die vor dem Krieg in der gemeinsamen Stadt zusammen gelebt hatten. Der Krieg hat sie getrennt und der Krieg hat ihre unterschiedlichen religiösen Zugehörigkeiten so aufgeladen, dass deren Symbole heute als Zeichen der wechselseitigen Unerträglichkeit dienen.
Eines teilen die Menschen von Mostar, Bosniaken wie Kroaten: ihre Geschichten und ihre tragischen Schicksale. Man kann kaum eine Familie finden, die von dem Krieg nicht direkt betroffen wurde. Viele sind ausgewandert, viele sind getötet oder verletzt worden und ihre Stadt ist in Staub und Asche verwandelt worden.
Am Ende haben wir eine Sendung über die Ähnlichkeiten und nicht über Unterschiede gemacht. Es war nicht mehr wichtig von welcher Seite jemand kam und man konnte sehen, dass alle etwas verloren haben. Man kann nur hoffen, dass eines Tages die Bürger von Mostar wieder ihre gemeinsame Stadt finden werden und dass man den Ruf des Muezzins und den Klang der Kirchenglocken als das annehmen wird, was sie eigentlich sein sollten, intime Zeichen einer seelischen Zugehörigkeit und nicht die Zeichen politischer Unterschiede.
Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 26. Jänner 2007, 9:05 Uhr
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