Russische Gewaltorgie

Der Tag des Opritschniks

Das Leben in Russland sei voll von Gewalt, meint Vladimir Sorokin. Auch sein neuestes Buch strotzt von Gewalt. Es gehe ihm aber nicht um die Gewalt, so der Autor, wichtiger seien ihm "Archaik und Mythologie in der Wirklichkeit des heutigen Russland."

Wir schreiben das Jahr 2027. Der Opritschnik Komjaga beginnt seinen Tag wie immer mit dem Besuch der Heiligen Messe. Dann waltet er seines Amtes, das heißt er mordet, vergewaltigt, brandstiftet, foltert und entspannt sich in der Mittagspause bei einer Injektion aus dem sogenannten "Aquarium". Nachmittags: Zensur, Erpressung, Messerstecherei und zum Ausklang ein großes Besäufnis beim Chef der Opritschnina, genannt "der Alte", inklusive einer von Sorokin mit Hingabe und in allen Einzelheiten beschriebenen balettösen Kettenkopulation des ganzen Vereins in der Sauna.

"Worum es mir in diesem Buch ging", erklärt Sorokin im Gespräch, "war eine Substanz herauszupräparieren, die Substanz des Gehorsams, des Untertanengeists in Russland Denn das ist die Substanz, mit der das Bewusstsein unserer Staatsbeamten getränkt ist. Und das ist auch die Substanz, auf der das Denken der Opritschniki im 16. Jahrhundert basierte."

Archaische Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung

Die Opritschniki waren die Leibgarde Iwans des Schrecklichen, derbe, blutrünstige Kerle aus dem Volk, denen der Zar befahl, unter den Mächtigen seines Reiches aufzuräumen. Iwans Ziel war die Einheit Russlands unter seiner Herrschaft, koste es was es wolle. Sorokin beschreibt in seiner Anti-Utopie "Der Tag des Opritschniks", wie diese Vergangenheit das Russland der nahen Zukunft wieder einholt.

"Das Leben in Russland ist tatsächlich voll von Gewalt", sagt Sorokin. "Die Gewalt liegt in der Luft. Aber es wäre eine Vereinfachung, das Leben dort auf Gewalt zu reduzieren. Wichtig scheint mir auch das Element der Archaik und der Mythologie in der Wirklichkeit des heutigen Russland genauso wie im Bewusstsein meiner Romanfiguren, der Opritschniki. Deren Bewusstsein baut auf Gewalt, stützt sich aber genauso auf das Sakrale und auf eine archaische Beziehung zum Staat. Der Staat hat in Russland immer den Platz des Göttlichen eingenommen. Das Göttliche als etwas Geschlossenes, Unzugängliches, Unvorhersagbares, Unberechenbares und Erbarmungsloses. Das waren eigentlich die Charakteristika der Macht in Russland. Und da sie das Göttliche ist, kann man zu dieser Macht eigentlich nur beten und sich ihr unterwerfen. Das ist das, was die Macht von den Menschen erwartet."

Repressalien ausgesetzt

Der heute 54-jährige Vladimir Sorokin hat berufliche Unterwerfungsgesten bislang vermeiden können. Er studierte Chemie, machte einen Abschluss als Ingenieur, arbeitete aber nie in diesem Bereich. Aus der Redaktion einer sowjetischen Kultur-Zeitschrift flog er, weil er sich weigerte, der KP-Jugendorganisation beizutreten.

Dann kam die Wende und allmählich eine neue Form des Drucks. Russland will stark und sauber sein, und zu diesem angestrebten Image wollen die blutrünstigen, lüsternen Werke Sorokins nicht passen. Die sogenannte Putin-Jugend versenkte seinen letzten Roman "Der himmelblaue Speck" 2002 öffentlich in einem überdimensionalen Pappmaschee-Klosett an zentraler Stelle, gleich neben dem Bolschoi-Theater. Ein Gerichtsverfahren gegen Sorokin wegen pornografischer Literatur im gleichen Jahr ging zu seinen Gunsten aus.

2005 schritt die Kulturkomission der Duma gegen eine Opernaufführung ein, zu der Sorokin das Libretto geschrieben hatte. Das alles konnte nicht verhindern, dass sein neuester Roman zu einem großen Erfolgt und Sorokin zu einem Liebling der Moskauer People-Magazine wurde. Der 54-jährige ist jetzt ein berühmter Mann.

"In Russland gibt es nur zwei Dinge, die einen gewissen Schutz bieten: Das sind die Freunde und das ist die Bekanntheit", meint Sorokin. "Ein unbekannter Mensch wird von dieser Obrigkeit, wenn sie es wünscht, ganz einfach zerquetscht. Der bekannte Mensch hat wenigstens die Gelegenheit, vorher noch etwas zu sagen und auch gehört zu werden, wie zum Beispiel die Journalistin Politkowskaja. Ansonsten kann ich sagen, dass ich nie besonders scharf darauf war, berühmt zu sein. Das ist eher etwas, was mich irritiert."

Fortschreitende Zensur

Die Opposition ist schwach, sagt Sorokin, vielleicht auch weil das Volk im Großen und Ganzen einverstanden ist mit dem Regime Putins. "Ich will versuchen, es mit einer Metapher zu erklären", so Sorokin. "Stellen Sie sich Russland vor als jemanden, der 70 Jahre lang im Lager war, der schlecht ernährt wurde, der nichts anzuziehen hatte, der gequält wurde und der hinter Stacheldraht eingesperrt war. In den 1990er Jahren hat sich das plötzlich verändert. Wenn man es mit der Sowjetzeit vergleicht, muss man sagen, dass die Russen heute Freiheiten haben, dass sie frei leben, zumindest auf einem alltäglichen Niveau. Sie können frei wählen, welches Bier sie trinken, welche Wurst sie kaufen und wohin sie in den Urlaub fahren. Das ist für Russland schon sehr viel. Und sie können sich vorstellen, dass dieser Mensch nach den 70 Jahren Lagerhaft und nach der Befreiung jetzt einfach in einer Art Rausch ist. In diesem Rausch interessiert ihn die Politik erst einmal herzlich wenig."

Vielleicht wachen die Menschen auf, wenn das letzte freie Informationsmedium in Russland, das Internet, zensiert wird. Nach Presseberichten hat Putin ein Dekret unterzeichnet, wonach eine Superagentur zur Medien- und Internetüberwachung geschaffen werden soll. Dann wäre die Kultur die letzte freie Domäne in der russischen Gesellschaft.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 17. Februar 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Vladimir Sorokin, "Der Tag des Opritschniks", aus dem Russischen übersetzt von Andreas Tretner, Verlag Kiepenheuer & Witsch.

Veranstaltungs-Tipp
Buchpräsentation mit Vladimir Sorokin, Mittwoch, 20. Februar 2008, Hauptbücherei Wien