Ritchie Pettauer und ein Wikipedianer
Ein Lexikon in 80 Sprachen
Wikipedia, die Enzyklopädie der Internetgeneration, unterläuft klassische Verlagsstrukturen, sieht sich starker Kritik ob ihrer Zuverlässigkeit ausgesetzt und hat sich dennoch zum beliebtesten Online-Nachschlagewerk gemausert.
8. April 2017, 21:58
Weltweit vertrauen Referats-recherchierende Schüler, Studenten und ganz allgemein wissbegierige Menschen der kollektiven Wissenssammlung Wikipedia. Nicht zuletzt trägt die extrem gute Google-Platzierung der einzelnen Stichworte zum Erfolg des Projekts bei. Die als Verein organisierte Redaktion übernimmt nicht nur Schreibarbeit, sondern kümmert sich auch selbstverwaltet um organisatorische Abläufe.
Christoph Breitler, Mikrobiologiestudent in Graz, begann als Autor in seinem Fachgebiet und arbeitet inzwischen intensiv am organisatorischen Teil mit. Derzeit koordiniert er die Gründung eines österreichischen Wikipedia-Vereins. Im Interview erklärt er die Innensicht eines Mitarbeiters auf die deutschsprachige Wikipedia und spricht über Problemfelder und mögliche Zukunftsszenarien.
oe1.ORF.at: Seit wann kennen Sie die Wikipedia?
Christoph Breitler: Also bekannt ist mir die Wikipedia selbst seit 2001. In dem Jahr bin ich zuerst auf die deutsche Version gestoßen. Ich selbst hatte mich aber schon viel früher auch bei der Nupedia angemeldet, dem Vorläuferprojekt, aus dem die Wikipedia selbst entstanden ist. Als aktiver Autor bin ich seit 2004 tätig.
Wie funktioniert die Teamkoordination? Wofür sind Sie zuständig und wie viel Zeit investieren Sie pro Tag bzw. Woche?
Meine grundsätzliche Tätigkeit sehe ich eigentlich im Schreiben von Artikeln, so bin ich ja auch zur Wikipedia gekommen: ich wollte in den Bereichen, wo ich etwas beitragen kann, "Lücken" füllen. Mittlerweile bin ich in die Planung eines Österreichischen Wikipedia Vereins (Wikimedia Österreich) analog zum Deutschen Verein (Wikimedia Deutschland) involviert. Als Pressekontakt geht es mir prinzipiell darum, die Einstiegshürden zu überwinden, damit eine Person, die etwas beitragen kann und möchte, auch "gehört" wird bzw. innerhalb der Wikipedia mitschreiben kann.
Wie funktioniert die Abstimmung des Teams untereinander und wie werden Meinungsverschiedenheiten geklärt?
Es gibt eine Reihe von Kommunikationskanälen, die genutzt werden, natürlich die Wikipedia selbst, dann andere Wikis bis hin zu Mailinglisten und IRC. Wobei die meisten dieser Kanäle offen zugänglich sind, daher kann jeder mitdiskutieren - und man kann nachvollziehen, was dort diskutiert wird. Ich denke, diese Transparenz trägt viel zum Erfolg von Wikipedia bei. Natürlich gibt es in diesem Prozess auch Meinungsverschiedenheiten und es entstehen Probleme. Es gibt meiner Meinung nach zwei wichtige Eckpfeiler, die das Projekt voran bringen: Wikipedia versucht eine Enzyklopädie zu erstellen (das wichtigste ist die Artikelarbeit) und niemand wird zur Mitarbeit gezwungen.
Wie sind Sie zum Wikipedia-Mitarbeiter geworden?
Angefangen habe ich mit dem Schreiben von Artikeln zum Thema Biologie. Als Mikrobiologie-Student lag mir das Thema in diesem Fall nah. Die Arbeit auf der Meta-Ebene kam erst danach. Da ich wohl einer der wenigen Österreicher war, die aktiv an der Wikipedia mitgearbeitet haben zu dieser Zeit, bin ich eher zufällig dazu gekommen.
Was ist Ihre persönliche Motivation für die unbezahlte Mitarbeit? Haben Sie von Ihrer Tätigkeit bisher - ideell, materiell - profitiert?
Meine Motivation ziehe ich aus der Tatsache, etwas beitragen zu können. Solange mir die Mitarbeit Spaß macht, bin ich auch motiviert dazu. Andere arbeiten ehrenamtlich bei Organisationen im Sozial- oder Bildungsbereich. Man profitiert nicht direkt davon. Man macht Erfahrungen, knüpft Kontakte, man arbeitet sich in Themengebiete ein, das sind die Werte, die man aus der Wikipedia Arbeit schöpfen kann.
Wie sieht die Wikipedia-Szene in Österreich generell aus?
Mittlerweile gibt es relativ viele Mitschreiber in Österreich, die Wikipedia ist inzwischen hierzulande sehr bekannt. Allerdings wird das Projekt leider noch zu oft als "deutsch" wahrgenommen und nicht als "deutschsprachig", das schreckt wohl viele von der Mitarbeit ab. Das wiederum schlägt sich in den Artikeln nieder, man findet häufig wenig österreichbezogene Information.
Kennen Sie Beispiele für gezielte Manipulationsversuche, zum Beispiel während eines Wahlkampfes?
In Österreich scheint das nicht gezielt zu passieren, bzw. nicht vehement. Das NPOV-Prinzip (Neutraler Standpunkt in allen Artikeln) und die Offenheit (man kann jederzeit sehen, wer welche Informationen im Artikel ediert hat) verhindern solche Veränderungen. Viel häufiger ist ungezieltes Einbringen von offensichtlich sinnloser oder Falschinformation. Die Wikipedia kann nur durch das Prinzip der Offenheit funktionieren, eine Anfälligkeit wird es dadurch immer geben. Es wäre wichtig, ein Verständnis dafür in die Öffentlichkeit zu tragen. Obwohl Artikel von jedem verändert werden können, muss nicht zwangsläufig Missbrauch passieren. Wenige würden mit einer Schaufel "bewaffnet" Spielplätze oder öffentliche Parks umgraben, aber viele scheinen Wikipedia Artikel ähnlich sinnlos zu "verändern".
Viele Mitglieder beklagen die langsame Weiterentwicklung und vermissen Features wie stabile Artikelversionen. Im c’t-Interview hat die Vorsitzende der Wikimedia-Foundation angekündigt, weitere Programmierer einstellen zu wollen. Wie sehen Sie die organisatorische und technologische Zukunft des Projekts?
Das Hauptproblem ist wohl die zielgerichtete Weiterentwicklung des Projektes. Die Wikimedia Foundation ist als Non-Profit-Organisation auf Spenden angewiesen, dieses Geld muss zunächst die Betriebskosten decken. Erst wenn dieser Grundstock abgedeckt ist, kann Kapital in zusätzliche Features investiert werden, daher muss es in dieser Hinsicht immer Kompromisse geben. Die stabilen Versionen bringen auch große Veränderungen im Projekt mit sich, daher ist die endgültige Einführung nicht alleine von Programmierarbeit abhängig. Mittelfristig gesehen sind sicher die endgültige Implementation der stabilen Versionen sowie die Einführung von Semantic-Mediawiki als Ziele zu sehen.
Welche Features vermissen Sie bzw. welche Weiterentwicklungen wünschen Sie sich persönlich?
Die Wikipedia hat sich sehr gut entwickelt, die deutschsprachige Version hat rund 731.000 Artikel, aber nur ein Bruchteil dieser Informationen ist auch untereinander verknüpft. Es wäre schön, Informationen auch mehrdimensional abzufragen: "Welche Pflanzen erreichen eine Maximalhöhe von 2,5m?" Oder "Welche Personen, die zur Wahl des Bundespräsidenten aufgestellt wurden, lebten wann und wie lange in Wien/Salzburg/Graz?"
Ritchie Pettauer ist selbstständiger Medienberater und Autor in Wien.
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