Globalisierung und Entnationalisierung

Das Paradox des Nationalen

Die Globalisierungsforscherin und Soziologieprofessorin Saskia Sassen sieht den Globalisierungsprozess nicht als Naturgewalt oder Verschwörung, sondern als eine Vielfalt von Mikroprozessen. Ihr neues Buch ist soeben auf Deutsch erschienen.

Die Globalisierungsforscherin Saskia Sassen ist alles andere als brav und angepasst, sie ist eine Vordenkerin, immer einige Jahre zu früh dran mit ihren Thesen. Möglicherweise auch mit der These, die diesem Buch zugrunde liegt.

Wir durchleben eine epochale Transformation, die noch jung ist, aber schon ihre Muskeln zeigt. Wir nennen diese Transformation mittlerweile Globalisierung, und dem entstehenden Apparat von globalen Institutionen und Dynamiken ist viel Aufmerksamkeit geschenkt worden. Doch wenn diese Transformation tatsächlich epochal ist, muss sie die komplexeste institutionelle Architektur einbeziehen, die wir je hervorgebracht haben: den Nationalstaat.

Sassen will den Globalisierungsprozess nicht als simple Naturgewalt oder als schiere Verschwörung verstehen, sondern als eine enorme Vielfalt von Mikroprozessen, die zu entnationalisieren beginnen, was einst national konstruiert war, denn den Nationalstaat sieht Saskia Sassen als eine mühevolle, künstliche Kreation. Der Entstehung von Nationalstaaten widmet sie den ersten Teil ihres Buches.

Verschwimmende Grenzen

Die in Dänemark geborene und in Buenos Aires und Italien aufgewachsene Saskia Sassen spricht fünf Sprachen fließend und ist US-Staatsbürgerin. Für die Soziologin ist "Staatsbürgerschaft" ein wichtiger Begriff, der im zweiten Teil ihres Buches genau unter die Lupe genommen wird.

Die Grenzen zwischen Staatsbürgern und Migranten verschwimmen immer mehr, meint sie. Einerseits verlieren Staatsbürger täglich Rechte gegenüber dem liberalen, sogenannten immer neoliberaler werdenden Staat, so Sassen, und anderereits gewinnen Migranten ständig Rechte dazu - ironischerweise, je länger sie gegen das Recht verstoßen. Beispielsweise wird ein Migrant, der seit nur sechs Monaten im Land ist, kaum eine Chance auf Legalisierung haben. Jemand, der seit zehn Jahren gegen die Gesetze verstößt, bekommt aller Wahrscheinlichkeit nach aber die Staatsbürgerschaft zugewiesen.

Die Folgen neoliberaler Politik

Das häuftig verwendete, aber kaum definierte Wort "Neoliberalismus" fällt gerne im Zusammenhang mit Globalisierung. Die Globalisierungsforscherin versteht unter Neoliberalismus ein Set an Transformationen, die gemacht wurden - und nicht vom Himmel fielen. Sie begünstigen gewisse Akteure, und andere nicht. Man könne nicht einfach den Unternehmen, im Gegensatz zu den privaten Haushalten, die Schuld in die Schuhe schieben, meint Saskia Sassen im Gespräch, denn durch neoliberale Politik sind auch viele Firmen zu Grunde gegangen.

Kapitalisten alleine für neoliberale Reformen und die Globalisierung verantwortlich zu machen sei zu simpel, meint Saskia Sassen. Als Beispiele führt sie die Ökonomien von Brasilien, Argentinien und Mexiko in den späten 1980er Jahren an. Die Entscheidung zu Marktöffnung, Deregulierung und Privatisierung trafen die Staatsoberhäupter. Manche Kapitalisten haben gut daran verdient, aber viele gingen daran zu Grunde.

Blühender Finanzsektor

Der Nationalstaat wird nicht, wie oft diskutiert, zum Auslaufmodell einer vergangenen Weltordnung degradiert, sondern ist Teil einer fundamentalen Transformation. Mit dieser These stellt sich Sassen wie schon so oft gegen den Common Sense und provoziert sicherlich eine kontroversielle Diskussion ihres Buches. Ihre Argumente sind immer gut gestützt, konsequent logisch und nachvollziehbar. Beispielsweise sieht sie, im Gegensatz zur gängigen Meinung, große multinationale Banken nicht als erstes Zeichen für neoliberale Globalisierung, sondern im Gegenteil: als deren Untergang. Weil diese Banken untergingen, so Saskia Sassen, konnte der Finanzsektor derart zu blühen beginnen. Plötzlich bekamen die kleinen, schwachen Finanzinstitute Raum. Sie hatten auf einmal so viel Geld, dass sie es an die Unternehmen verleihen konnten.

Die Finanzinstitute multiplizierten Geld viel rascher, weil der Finanzmechanismus ein viel schnellerer ist als der Bankmechanismus, so Sassen. Auch die Elektronisierung der Finanzmärkte beschleunigte die Vorgänge. So wie die starke Zunahme einer besonderen Art von Finanzinstrumenten, den Derivaten. Derivate sind Finanzverträge, deren Preis sich nicht am eigenen Wert orientiert, sondern etwa an einem Aktienkurs, an Zinssätzen oder dem Preis gewisser Rohstoffe. Diese, von der Realwirtschaft komplett entkoppelten Derivate sieht Sassen als Experimente und schreibt ihnen zu einem großen Teil die rapide Entwicklung der Finanzmärkte seit den 1980er Jahren zu.

Derivate sollen den Einfluss von Veränderungen der Zinssätze verringern; man kann daher sagen, dass sie die Effektivität der Zinspolitik herabsetzen, mit der Regierungen die Ökonomien zu steuern versuchen.

Gestärkte administrative Kompetenz

"Entnationalisierung" ist in "Das Paradox des Nationalen" wohl das wichtigste Wort. Saskia Sassen möchte es nicht falsch verstanden wissen. Denationalisation, also Entnationalisierung bedeutet nicht unbedingt, dass der Nationalsstaat geschwächt wird und auch nicht globalisiert. In England, so Sassen, würde man sofort an Privatisierung denken. Das wäre aber nur ein Teil. Entnationalisierung schwächt den Staat in einer gewissen Rolle - nämlich als nationalen politischen Akteur, der eine Nation repräsentiert. Aber gleichzeitig wird die administrative Kompetenz gegenüber der Weltökonomie gestärkt. Der Nationalstaat, so Saskia Sassen, zeigt, dass er ein starker Verwalter ist und der globalen Ökonomie helfen kann. Das hat natürlich Konsequenzen. Vor allem für die Demokratie, denn die Legislative, die neue Gesetze beschließt, wird ausgezehrt. Der demokratisch-liberale Staat, so Saskia Sassen, verliert an Macht, aber die Verwaltung gewinnt an Bedeutung. Man bekommt also weniger Wohlfahrtsstaat und mehr Apparatur für globale Finanzmärkte.

Saskia Sassens "Das Paradox des Nationalen - Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter" ist klein gedruckt und ohne Bibliographie 680 Seiten schwer. Auf diesen schafft es Saskia Sassen, komplexe Vorgänge genau aufzuspüren, keine alles erklärenden Theorien in die Welt zu setzen, sondern vorsichtig und doch bestimmt klar zu sehen. Unter anderem, dass es heute zu früh ist, um sagen zu können, was das Ergebnis dieses Transformationsprozesses namens Globalisierung sein wird. Dieser Realismus ist erfrischend.

Service

Saskia Sassen, "Das Paradox des Nationalen", aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Gramm, Suhrkamp Verlag