Ein Lob der Unsportlichkeit
Der Gesundheitswahn
Ein mit vielen Sit-ups antrainierter Waschbrettbau wäre schon was Feines. Und Oberarme wie Stahlseile. Und stramme Wadeln. Leben also ehrgeizige Hobbysportler gesünder? Nein, meint Midas Dekkers, der ein Loblied auf die Unsportlichkeit anstimmt.
8. April 2017, 21:58
Es war eine der wirkungsmächtigsten Studien der Medizingeschichte. Über viele Jahre hinweg wurden Männer beobachtet, die zwischen 1916 und 1950 an der Harvard University ihren Abschluss machten. 1978 wurden die Ergebnisse publiziert und bilden bis heute - so Midas Dekkers - die Grundlage für den alles umfassenden Gesundheitswahn. Denn die Schlüsse der Studie sind eindeutig: Je öfter die Befragten sich bewegten, desto seltener wurden sie Opfer von Herzkrankheiten. Die Zahlen zweifelt Midas Dekkers gar nicht an, die statistischen Methode jedoch umso mehr.
Man verglich nämlich Männer, die sich oft bewegten, direkt mit einer Kategorie von Männern, die keine 500 Kilokalorien wöchentlich durch Bewegung verbrannten. Weniger als 500 Kilokalorien pro Woche verbrauchen aber nur Personen, die so gut wie bettlägrig sind. Wer sich jeden Tag die Zähne putzt und einmal pro Woche seine Briefe zur Post bringt, verbraucht schon mehr. Im Grunde sagt die Studie deshalb nicht mehr aus, als dass die Kranken früher sterben als die Gesunden.
Ohne Sport geh's auch gut
Natürlich sei Bewegung wichtig, räumt der Biologe Dekkers ein. Aber man muss nicht gleich einen Marathon laufen, um gesund zu bleiben. 2.000 Kilokalorien pro Woche reichen, um das Herz in Form zu halten. Jeden Tag zur Arbeit radeln, damit hat man die 2.000 Kilokalorien schon verbraucht. Midas Dekkers propagiert also keineswegs das Nichtstun und das faule Herumhängen, vielmehr will er mit seinem Buch den grassierenden Sportwahn kritisch hinterfragen und zeigen, dass körperliche Ertüchtigung nicht immer positiv besetzt war. Anderthalb Jahrtausende konnten die Abendländer hervorragend ohne Sport leben. Der gute Christ spielte nicht Ball, sondern sprach Gebete. Im Gegensatz zu heute war Körperbewusstsein keine Tugend, sondern eine Sünde.
Erst im 19. Jahrhundert kam die Idee, über den Körper auch den Geist zu formen mehr und mehr in Mode. Es entstand ein Körperkult, den die totalitären Systeme nur zu gerne für sich vereinnahmten.
Die ältesten Disziplinen waren militärischer Natur: Dauerlauf, Ringen und Weitwurf von Waffen. Menschenfleisch wurde trainiert, um Menschenblut zu vergießen. An der Wiege des Sports steht der Soldat, an der Wiege des Soldaten der Sport. Jedem Schlachtfeld ging die Anlage von Sportplätzen voraus. Eine Trennung zwischen Sport und Staat hat es nie gegeben, deshalb ist der Sport auch seit jeher eine Staatsangelegenheit.
Nicht nur körperliche Aufrüstung
Der militärische Gedanke stand auch bei der Wiedergeburt der Olympischen Spiele Pate. Pierre de Coubertin, der die Spiele der Neuzeit erfand, sah in den Franzosen nichts anderes als verwöhnte Weichlinge, weshalb die Deutschen 1870 sein geliebtes Vaterland besiegen konnten. Damit das nicht mehr passiert, sollten auch die Franzosen körperlich aufrüsten.
Die Deutschen turnten, in England genoss der Sport ohnehin hohes Ansehen, die Franzosen aber? Saßen lieber in ihren Cafés und diskutierten. Das alte Griechenland war aufgrund zahlreicher spektakulärer Ausgrabungen ohnehin gerade in Mode, und so erweckte der Baron am 23. Juni 1894 die Olympischen Spiele zu neuem Leben - in der Hoffnung, wenigstens so seinen Landsleuten den Sport schmackhaft machen zu können.
Viel Erfolg war seinen Bemühungen allerdings nicht beschieden. Zwar wurde das Problem angegangen, aber auf französische Art. Statt einer Sporthalle bekam jedes Dorf ein Café des Sports. Von hier aus starteten die Radrennen, hier waren die Männer unter sich, hier wurde die positive Wirkung jeder gesunden Körperbewegung mittels Wein und gebratenen Wachteln sofort zunichte gemacht.
Körper gegen Geist
Midas Dekkers hat mit seiner Abrechnung mit dem Gesundheitswahn ein äußerst informatives und gut lesbares Buch vorgelegt. Im Kampf Körper gegen Geist steht er eindeutig auf Seiten des Geistes. Die Rollen wurden im letzten Jahrhundert vertauscht, konstatiert der Biologe. Früher hatte der Körper die Aufgabe, zur Verbesserung des Geistes beizutragen, heute wird der Geist nur noch dazu gebraucht, die Muskeln zu aktivieren, die Lungen zum Äußersten zu treiben und die körperlichen Erschöpfungssyndrome zu negieren.
"Der Gesundheitswahn" ist eine profunde Polemik; ein Text, der für das Mittelmaß eintritt und zeigt, dass die Hysterie rund um den gesunden durchtrainierten Körper viel weniger dem Aktiven selbst nutzt als einer regelrechten Sport- und Fitnessindustrie, die Hand in Hand mit Regierungen und Versicherungen arbeitet und vor allem an der eigenen finanziellen Gesundheit interessiert ist.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Midas Dekkers, "Der Gesundheitswahn", aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm, Karl Blessing Verlag