Tom Segevs Klassiker jetzt auch auf Deutsch

Die ersten Israelis

Auf Deutsch liegen einige der Bücher des israelischen Historikers Tom Segev vor. Zur 60. Wiederkehr der Staatsgründung Israels ist nun, 20 Jahre nach Veröffentlichung des Originals, auch sein Buch über die Anfänge des jüdischen Staats auf Deutsch erschienen.

"Israel hat eine relativ liberale Politik der Archivöffnung - nicht liberal genug für meinen Geschmack, aber liberaler als viele andere Länder - und so war es möglich, die Geschichte zu studieren. Davor hatten wir keine Geschichte, wir hatten Mythologie, Ideologie und Indoktrination. Geschichte ist in Israel immer noch Teil der Politik", sagt Tom Segev im Gespräch.

Als Segev ab den 1950er Jahren in Jerusalem zur Schule ging, wurden unkritisch die Mythen tradiert, die die Gründung des damals noch jungen Staates umgaben. Menschen aus Dutzenden Ländern und unterschiedlichen Kulturen hatten sich aus unterschiedlichen Motiven in Israel angesiedelt. Eine einigende Kraft war nötig, etwas, das diese Menschen gemeinsam entwickelten und das ihnen über die enormen Differenzen, über Probleme und Bedrohungen hinweghelfen würde. Damit entzog man ihnen aber gleichzeitig ein wichtiges demokratisches Recht, das Recht zu zweifeln, schreibt Tom Segev rückblickend.

Völlig neuer Blick
Dreißig Jahre nach der Gründung des Staates Israel wurden Ende der 1970er Jahre Archive geöffnet, bis dahin nicht zugängliche Dokumente, Protokolle geheimer Sitzungen, Briefwechsel der Entscheidungsträger und persönliches, wie zum Beispiel die Tagebücher Ben Gurions, konnten ausgewertet werden. Tom Segev hatte als Historiker und Journalist der kritischen Zeitung "Ha’aretz" sein Thema gefunden: "Über kein Ereignis wollte ich lieber schreiben, als über die Gründung des Staates Israel" sagt er. Segev kam bei seinen Recherchen aus dem Staunen nicht heraus: Nie hatte er in der Schule gehört, dass Palästinenser aus ihren Häusern vertrieben worden waren, dass man sie daran hinderte, zurückzukehren.

Auch der Mythos von der gerechten Gesellschaft kam ins Wanken als Dokumente auftauchten, die die Diskriminierung der Einwanderer aus den afrikanischen Ländern belegten. Selbst die Vorstellung vom Friedenswillen der Israeli den kriegswütigen arabischen Nachbarn gegenüber erwies sich als Trugbild, etwa wenn sich Akten fanden in denen ein syrischer Präsident für den Abschluss eines Friedensvertrags bereit gewesen wäre, 250.000 palästinensische Flüchtlinge aufzunehmen. Es kam nicht dazu, denn der syrische Präsident wurde ermordet und Ben Gurion dachte, dass Israel auch so stark genug sei, die Syrer so zu besiegen.

Ein europäisches Projekt
Die für Segev - wie für die israelische Gesellschaft - schwer zu verkraftenden Erkenntnisse betrafen auch die Geschichte der Einwanderung. Die Zionisten hatten von einem Land ohne Volk gesprochen, das für ein Volk ohne Land zur Verfügung stünde.

Nach der Staatsgründung sah man daher die Notwendigkeit, das Land möglichst schnell z besiedeln- die erste Million jüdische Einwohner zu erreichen war der Traum. Schon wenige Tage nach der Staatsgründung 1948 wurden alle Einwanderungsbeschränkungen abgeschafft. Der Mossad warb in vielen Ländern- oft mit fragwürdigen Methoden, unter Druck und mit falschen Versprechungen- Juden für die Ausreise nach Israel an. So trafen in den ersten sechs Monaten 100.000 Immigranten ein, im Jahr 1949 waren es über 250.000.

Es gab nicht die Infrastruktur, um sie zu versorgen, nicht die Unterkünfte, um sie zu beherbergen. Viele - gerade die Einwanderer aus Nordafrika - lebten unter elenden Bedingungen, litten Hunger, hatten oft nicht einmal Zelte, es fehlte an medizinischer Versorgung und dem Nötigsten für den Aufbau eines neuen Lebens. "Es gab viel Fremdheit", sagt Segev, der israelische Traum war ein europäischer Traum. Leider waren die Juden, die nach Israel kommen hätten können, ermordet worden und so kamen Juden aus arabischen Ländern, die man früher so in der zionistischen Bewegung gar nicht wahrgenommen hat."

Die objektiven Schwierigkeiten jedenfalls waren enorm und Segev beantwortet die Frage, warum es nicht zu einem Bürgerkrieg gekommen ist, mit dem gemeinsamen Traum, den die Einwanderer hatten: "Manchmal beneide ich sie darum".

Anwesend Abwesende
Die Anfangs zurückhaltende Vergabe leerstehender palästinensischer Häuser oder Ansiedlungen an jüdische Einwanderer wurde bald von der Praxis überrollt. Obdachlose Neuankömmlinge nahmen sich, was sie fanden, oft in Konflikt mit den eigenen Leuten, die diese Häuser hätten bekommen sollen. Gesetze wurden unter Staatschef Ben Gurion erlassen, um die Enteignung geflohenen Palästinenser zu ermöglichen. Es stellte sich aber heraus, dass viele nicht außer Landes gegangen waren, sondern nur vorübergehend vor den Kämpfen des Unabhängigkeitskrieges in benachbarten Dörfern oder bei Verwandten Schutz gesucht hatten. Es handelte sich also, nicht wie im Gesetz definiert um "Abwesende" - also ergänzte man die Enteignungsgesetze um den Begriff der "anwesend Abwesenden" die ebenfalls das Recht auf Haus und Hof verloren.

Ein junger Wilder
Tom Segev war in den 1980er Jahren einer der so genannter "Jungen Historiker", die die wahre Geschichte der Anfänge Israels erforschten und beschrieben. Als 1984 sein Buch über "Die ersten Israelis" zuerst in Hebräisch, dann auf Englisch herauskam, gab es einen Sturm der Entrüstung. Aber vieles, das damals empörte, wurde schon wenige Jahre später Stoff israelischer Schulbücher.

Immer noch aktuell
Neu ist vieles davon hierzulande, deshalb ist das Buch jetzt, bei seiner deutschen Erstveröffentlichung mit 20-jähriger Verzögerung, noch immer ein lebendiges und beeindruckend recherchiertes Stück Geschichte. Tom Segev ist ein ausgezeichneter Schreiber, er versteht es, packend und lebendig zu schildern. Er denunziert keinen der Beteiligten, obwohl seine Anteilnahme eindeutig auf Seiten der Benachteiligten liegt, und er weckt Verständnis für so manches, was von außen betrachtet unverständlich erscheint. Da viele der Geschichten von damals bis in die Gegenwart nachwirken, ist "Die ersten Israelis" auch ein aktuelles Buch.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Tom Segev, "Die ersten Israelis", Siedler Verlag

Link
Siedler Verlag - Die ersten Israelis