Vom Verschwinden des Menschen

Warum ist nicht alles schon verschwunden?

Man kann Baudrillard als konservativen postmodernen Denker bezeichnen, weil er davor warnt, dass die Errungenschaften der Moderne verschwinden werden, ja, bereits im Verschwinden sind. In seinem letzten Essay spricht er sogar vom Ende des Denkens.

Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb,
weil sie noch nicht ist
Wenn ich von einem Ort spreche, dann deshalb,
weil er verschwunden ist
Wenn ich von einem Menschen spreche,
dann deshalb, weil er tot ist
Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb,
weil sie schon nicht mehr ist.


Mit diesen Zeilen beginnt Jean Baudrillards Essay "Warum ist nicht alles schon verschwunden?". Diesen Text schrieb der Autor zu einer Zeit, als er schon wusste, dass es ihn bald nicht mehr geben würde. Baudrillard verstarb im März 2008 mit 77 Jahren. Die zitierten Anfangszeilen sind so gesetzt, dass sie einem Gedicht gleichen und wohl eine Art lyrische Beschwörungsformel sein sollen. Baudrillard beschwört dasjenige, womit er sich ein Leben lang beschäftigt hat: das Verschwinden. Und wie jedes Verschwinden, das in Worte gefasst wird, ist es ein beredtes Verschwinden - und ein ambivalentes, denn das Verschwinden und alles, was mit ihm verschwinden wird, ist noch da und kann daher zur Sprache kommen.

Existenz um den Preis des eigenen Todes

Baudrillard hat Virtualität und Cyberspace, Simulation und Hyperrealität, Globalisierung und Terror kritisch betrachtet und ist gegen die Allmacht der Medien zu Felde gezogen. Und man kann Baudrillard als konservativen postmodernen Denker bezeichnen, weil er davor warnt, dass die Errungenschaften der Moderne und der Aufklärung verschwinden werden, ja, bereits im Verschwinden sind.

An einer Stelle seiner lyrischen Beschwörungsformel heißt es: "Wenn ich von einem Menschen spreche, dann deshalb, weil er tot ist". Baudrillard meint dabei nicht einen bestimmten Menschen, dessen Verschwinden zu betrauern sei, sondern den Menschen.

Am Ende der Machtergreifung dieser Maschine, die die gesamte menschliche Intelligenz in sich zusammenfasst und sich von nun an völliger Autonomie gewiss ist, wird deutlich, dass der Mensch nur um den Preis seines eigenen Todes existiert. Unsterblich wird er nur um den Preis seines technologischen Verschwindens, seiner Einschreibung in die Ordnung des Digitalen (die mentale Diaspora der Netze).

Beispiel digitale Fotografie

Diese "Maschine", die da Baudrillard vor Augen hat, ist nicht Maschine im Sinne der Moderne - also eine, die zum Nutzen des Menschen produziert und von ihm überwacht werden kann und soll. Diese "Maschine" ist ein Analogon zur menschlichen Intelligenz, übertrifft aber diese durch technisch-logische Eigenschaften und durch Speicherkapazität. Als Beispiel dafür wird allerdings nicht der Computer mit seinen algorithmischen Schleifen gewählt, sondern die digitale Fotografie im Verhältnis zu analogen. Das ist nicht wirklich verwunderlich, denn neben seiner philosophischen Tätigkeit widmete sich Baudrillard der Fotografie.

Analoge Kameras produzieren Bilder von der Natur, von Gegenständen und Menschen, die erst durch die Entwicklung der Negative sichtbar werden. Digitale Fotos sind hingegen sofort präsent, sie sind aufrufbar, löschbar, bearbeitbar und versendbar von einer Minute auf die andere. Natürlich sind auch analoge Bilder kopierbar, aber ein digitales Bild eines Menschen kann mit einer viel höheren Geschwindigkeit vervielfältigt und korrigiert werden.

Dominantes multimediales Konzert

Wer kennt ihn nicht, den Rausch des Digitalen - wenn bei einer Geburtstagsparty Hunderte von Fotos geschossen werden, von denen nur ein Bruchteil auf Fotopapier gedruckt wird oder im Computerarchiv aufscheint? Für Baudrillard wird in diesem Phänomen das Verschwinden des Menschen sichtbar. Es ist ein paradoxes Verschwinden, denn es entsteht nicht durch Minimierung des Bildwertes, sondern durch seine Maximierung. Der Mensch - sein Charakter, seine "Einmaligkeit" - verschwindet in der Welt des Digitalen als wahrhaft multiple Persönlichkeit. Das multimediale Konzert, bestehend aus Fernsehen, Film, Digitalkamera, Video und Internet bringen das autonome Subjekt, das für Aufklärung und Moderne die Basis allen Denkens war, zum Erlöschen. Aber auch Gehirnforschung, Künstliche Intelligenz und Biogenetik sind an diesem Prozess beteiligt.

Ist alles dazu verdammt, zu verschwinden - oder, genauer gesagt: Ist nicht alles schon verschwunden? (Was an das sehr ferne Paradox einer Philosophie anknüpft, die niemals stattgehabt hat: WARUM IST NICHTS UND NICHT VIELMEHR ETWAS?)

Mit diesem Gedanken knüpft Baudrillard an eine Frage Martin Heideggers an, die oft belächelt wird: "Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" Der Philosoph meint damit Folgendes: Der Mensch schlägt die Augen auf und sieht, dass das Seiende da ist - die Natur, die Gegenstände, er selbst als Mensch. Damit beginnt das Denken.

Das Ende des Denkens

Baudrillard hingegen spricht vom Ende des Denkens, vom Verschwinden des denkenden, vorstellenden und darstellenden Subjekts. Ist das so? Wird es so kommen? Baudrillard zögert, in seinem letzten Text eindeutig Antwort zu geben, denn am Anfang des Essays steht jene lyrische Beschwörungsformel. Sie endet mit dem Satz: "Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie schon nicht mehr ist." Aber sie beginnt mit den Worten: "Wenn ich von der Zeit spreche, dann deshalb, weil sie noch nicht ist."

Vielleicht ist dies das stille Vermächtnis Jean Baudrillards. Nämlich, dass es noch nicht Zeit ist, dass alles verschwindet, obwohl vieles dem Verschwinden sich zugesellt. Oder: Dass es noch nicht Zeit ist, zu verstehen, dass man gegen das Verschwinden sich zur Wehr setzen muss. So oder so sollte man Jean Baudrillards letzten Essay ernsthaft lesen und sich fragen, auf welcher Seite man selbst steht, denn das Verschwinden braucht uns als Partner, um uns als Menschen verschwinden lassen zu können.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Jean Baudrillard, "Warum ist nicht alles schon verschwunden?", Matthes & Seitz Verlag

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Matthes & Seitz Verlag - Jean Baudrillard