Leben im Gulag

Linkes Ufer

Warlam Schalamow gilt neben Alexander Solschenizyn als wichtigster Beschreiber der Zustände in den sowjetischen Gulags. Nach dem ersten Tei seiner biografischen Erzählungen, "Durch den Schnee", ist nun der zweite Band auf Deutsch erschienen.

Jede Erzählung, jeder Satz wurde einmal provisorisch ins leere Zimmer geschrien. (...) Wenn ich schreibe, rede ich immer mit mir selbst, ich schreie und wüte. Die Tränen kann ich dabei nicht zurückhalten. Erst wenn eine Erzählung beendet ist, wische ich mir die Tränen ab.

Warlam Schalamows Poetik, wie er sie im Essay "Über meine Prosa" formulierte, hat mit Flaubert mehr zu tun als mit jedem "einfachen" Augenzeugen- oder Erlebnisbericht über Schrecken und Terror in den Konzentrationslagern des 20. Jahrhunderts. In deren sowjetischer Ausprägung, im Archipel Gulag, verbrachte Schalamow 17 Jahre.

Mit diesem ästhetischen Anspruch ist natürlich kein wie auch immer geartetes Werturteil über jede einzelne dieser Lager-Darstellungen getroffen, er markiert nur jene Grenze, die in der russischen Lagerliteratur - im Unterschied zu jener über die deutschen KZs - schon immer erhoben wurde: unter "den Russen" wurde zum Beispiel ziemlich rüde darüber gestritten, wer im "schlimmeren" Lager gewesen war.

Schlimmer als deutsche Konzentrationslager

Russische Texte über das Lager wurden - trotz oder vielleicht sogar wegen der verwickelten Geschichte der sogenannten Entstalinisierung - immer auch schon als "Horrorliteratur" diskutiert und unterlagen dabei nicht der Tabuisierung, wie es im Fall der deutschen Konzentrationslager der Fall war.

Schalamow selbst lässt, was etwa die Vergleichbarkeit von Hitlers und Stalins Lagern angeht, keinen Zweifel an seiner Sicht der sowjetischen Dinge:

An der Kolyma gab es keine Gasöfen. Die Leichen warten im Fels, im ewigen Eis.

Die Grauzonen zwischen Opfern und Tätern

Schalamow untersucht die verschwimmenden Grauzonen - zwischen Tätern und Opfern, zwischen Opfern, die gerade noch Täter waren, und Opfern, die unter den Bedingungen des Lagers zu Tätern werden.

Die zwei Dutzend, Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre nach seiner Freilassung und Rückkehr nach Moskau geschriebenen Erzählungen von "Das linke Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2" stellen gleichsam die Fortsetzung von Kolyma 1, "Durch den Schnee", dar.

Standen dort im Wesentlichen die 1930er Jahre des großen Terrors im Zentrum, geht es hier vorwiegend um Schalamows "Karriere" als "pridurok" im darauffolgenden Jahrzehnt. Dem Ende der offiziellen - schon zweiten - Lagerhaft im Jahr 1942 war eine weitere Verurteilung gefolgt: Schalamow wird zum Feldscher ausgebildet und lebt unter den vergleichsweise "privilegierten" Bedingungen des medizinischen Hilfspersonals.

Mehr Gefangene denn je
Nach dem Sieg im sogenannten "Großen Vaterländischen Krieg", im Zweiten Weltkrieg, hat der Archipel Gulag sein zahlenmäßig größte Ausdehnung erreicht, die Form der "Bestrafung" (nämlich Massentötung) ist nicht mehr derart rabiat, für die Häftlinge hat sich dennoch wenig geändert:

Da sind noch immer die "Selbstverstümmler", die sich nicht nur ihre Finger abhacken (was Ärzte und Lagerleitung sofort bemerken), um der Arbeit in den Goldbergwerken der Kolyma zu entgehen, da sind noch immer die Karrieristen, Denunzianten, und ehemaligen Tschekisten, die sich - selbst zu Häftlingen geworden - noch immer an "Volksfeinden" rächen wollen; und da sind die Kriminellen - (immer im Einvernehmen mit der Lagerleitung) -, die bei Bedarf unumwunden erklären, wen sie bei der nächsten Gelegenheit einfach umbringen werden. Da finden sich noch immer jene unzähligen Häftlinge, die irgendwann einer wie auch immer absurden Anklage der sowjetischen Justiz zum Opfer fielen.

Unerträglich nüchterne Ernsthaftigkeit

Schalamows Zynismus und bitterster Sarkasmus (wenn es etwa um die aussichtslose Liebesgeschichte zweier Häftlinge geht) ist durch geradezu unerträglich-nüchterne Ernsthaftigkeit gekennzeichnet. Das trifft auch zu, wenn er sich ekstatischen Naturbeschreibugen oder dem sentimentalen Genre der Tiergeschichte überlässt.

Dabei transportiert Schalamow durchaus auch aktuelle politische Diskussionen und Umstände, und zwar in knappen Andeutungen: Da ist etwa der ehrgeizige Lagerarzt Lunin, ein Nachfahre des gleichnamigen Dekabristen (also des Besten, was Russlands ältere Geschichte aufzuweisen hat). Lunin ergeht sich gegenüber dem Feldscher Schalamow in jovialer Sentimentalität über das frühere Leben in der fernen Hauptstadt am "Festland":

"Ja, Moskau, Moskau. Aber sag – wie viele Frauen hattest du?"
Für einen Halbverhungerten war es unmöglich, ein solches Gespräch führen, aber der junge Chirurg hörte nur sich selbst und nahm mein Schweigen nicht übel.
"Hör zu, Sergej Michajlowitsch, unsere Schicksale, das ist ja ein Verbrechen, das größte Verbrechen des Jahrhunderts."
"Ach, das weiß ich nicht", sagte Sergej Michajlowitsch unwillig.
"Da hetzen die Jidden immer."
Ich zuckte mit den Schultern.


Das Zucken mit den Schultern wischt allen russischen Antisemitismus einfach weg. "Shidy", von denen im Original die Rede ist, sind nebenbei nicht einfach "Jidden", der Ausdruck ist vielmehr ein "Todschlagargument". Es geht hier also um den Vorwurf, "die Juden" hätten die Oktoberrevolution angezettelt und alles Unglück über das Land gebracht, ein "Übel", das sich Stalin in seiner Kampagne gegen sogenannte "Komsopoliten" und "Zionisten" Ende der 1940er Jahre zu "beseitigen" trachtete.

Flüchtling Pugatschow

Der beste, ungeheure erzählerische Dynamik entfaltende Text des Bandes ist "Das letzte Gefecht des Major Pugatschow". (Die Erzählung wurde - wie Schalamows ganze Lebensgeschichte - 2005 vom russischen Staatsfernsehen verfilmt.)

Pugatschow, der kurzfristig in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und von dort mit einigen Mitgefangene zu den eigenen Truppen geflohen war, wurde anschließend als Wlassow-Anhänger, also als Kollaborateur der Deutschen, verhaftet und nach Kolyma geschickt. Mit einem Dutzend Mithäftlingen wagt er, der im Krieg den Kampf und die paradoxe Freiheit vom Stalinismus erlernt hatte, den Ausbruch aus dem Gulag: Die Flucht in die Taiga scheitert, alle Flüchtigen werden erschossen - bis auf Pugatschow: Dessen Ende, versteckt in einer Bärenhöhle, erzählt Schalamow so:

Pugatschow pflückte Preiselbeeren, die in Büschen direkt auf dem Fels am Eingang der Höhle wuchsen. Graublau und runzlig, platzten die vorjährigen Beeren in seinen Fingern, und er leckte die Finger ab. Die überreifen Beeren waren geschmacklos wie geschmolzener Schnee. Die Beerenschale klebte an seiner trockenen Zunge. (...) Ja, das waren die besten Leute gewesen. Und auch Aschots Nachnamen wusste er jetzt – Chatschaturjan. Major Pugatschow rief sie sich alle ins Gedächtnis – einen nach dem anderen – und lächelte jedem zu. Dann schob er den Pistolenlauf in den Mund und drückte zum letzten Mal im Leben ab.

Geschichten mit tödlichem Ernst

Schalamow verkehrt mit seinen Erzählungen alle Verhältnisse - jene von Erinnern und Vergessen, von Mensch und Natur: Unter dem bizarren Titel "Lend-lease" (anspielend auf die amerikanischen Hilfslieferungen an die Sowjets während des Krieges) wird da der funkelnagelneue amerikanische Bulldozer erst einmal verwendet, um ein Massengrab zuzuschütten.

Dass das Gras noch vergesslicher ist als der Mensch. Und wenn ich vergesse, wird das Gras vergessen. Doch der Stein und der Dauerfrostboden vergessen nicht.

Vielleicht gehört das, was Warlam Schalamow über die Lager der Kolyma geschrieben hat, zu den wenigen heiligen Texten, die im 20. Jahrhundert verfasst wurden: Wer sie liest, wird, wie es alle ästhetischen Revolutionen der Moderne hoffnungslos verspielt verlangt hatten, genötigt, sein Leben tatsächlich zu ändern. Zumindest wird man von einem Ernst befallen, den man nur noch als "tödlich" bezeichnen kann.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 31. August 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipps
Warlam Schalamow, "Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2", aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold, Matthes und Seitz Verlag

Warlam Schalamow, "Durch den Schnee, Erzählungen aus Kolyma 1", aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold, Matthes und Seitz Verlag

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Link
Matthes & Seitz - Warlam Schalamow