Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation
Weltsprache Kunst
Das umfangreiche Werk, vorgelegt von dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt und der Kunsthistorikerin Christa Sütterlin, geht von der Überzeugung aus, es gebe Zeichen beziehungsweise Signale, auf die alle Menschen gleich reagierten.
8. April 2017, 21:58
1967 schuf Andy Warhol eines seiner bekanntesten Werke: "Marilyn", ein quadratischer Siebdruck in Gelb und Purpurtönen. Warhols Marilyn Monroe war nicht viel mehr als ein dicklippiger Mund, eine durch kräftigen Lidstrich akzentuierte Augenpartie und die markante Frisur. Das Bild wurde zur Ikone der Pop-Art, nicht trotz, sondern wegen seiner stereotyp und schematisch wirkenden Bildkonzeption, die nicht die Persönlichkeit, sondern deren Klischee reproduziert. "Marilyn" gilt als Popikone des "Bild gewordenen" Menschen, und diese Ikonenhaftigkeit liegt wohl dann vor, wenn ein Inhalt ganz in seiner Form aufgegangen ist.
"Dies ist aber nicht nur ein Effekt kulturellen Lernens, der Vorschrift dessen, was Marilyn sei, sondern auch einer Lerndisposition: unserer perzeptiven Konstanzleistung, Marilyn Monroe gegen alle Reduktionen zu erkennen!", heißt es in einem Buch, das sich der Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation widmet. "Weltsprache Kunst" heißt das umfangreiche Werk, vorgelegt von dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt und der Kunsthistorikerin Christa Sütterlin, das von der Überzeugung ausgeht, es gebe Zeichen beziehungsweise Signale, auf die alle Menschen gleich reagierten, Zeichen, deren Gestalt und Bedeutung tief im Menschen verankert seien.
Über Grenzen und Zeiten hinweg
"Das, was wir als Weltsprache nehmen, sind jene Künste, bei denen man auch über die Kulturkreisgrenzen hinweg oder über die Jahrhunderte hinweg die gleichen Leitbilder ästhetischer und ethischer Art befolgte", meint Eibl-Eibesfeldt. "Man kann also etwas über die Natur des Menschen erfahren, indem man Felsmalereien von Buschleuten oder altsteinzeitliche Felsmalereien oder Skulpturen der Griechen, der Römer, die zum Teil sehr anschaulich sind, wenn man die vergleicht.
Und es wird viel verglichen und gegenübergestellt in Sütterlins und Eibl-Eibesfeldts Werk. Ihre "Weltsprache Kunst" ist ein beeindruckendes Kompendium - mit einer schier erdrückenden Fülle von Forschungsansätzen, Interpretationsversuchen und Reproduktionen: auf 540 großformatigen Seiten finden sich mehr als 800 Abbildungen. Sie zeigen Stein-Objekte des Honigameisen-Klans der australischen Walbiri genauso wie Wiener Graffiti-Zeichen von 2007, steinzeitliche Höhlenmalereien und Picasso-Wandbilder, aber sie zeigen sie nicht - wie übliche kunsthistorische Werke - sauber gegliedert nach chronologischen, thematischen oder ethnologischen Kriterien.
Universale Grammatik menschlichen Verhaltens
Den Autoren geht es um Aspekte wie die "Ontogenese der Zeichenbildung", um "die universale Grammatik menschlichen Sozialverhaltens", um "tonisierende Reize und Signale" in der "Bildkommunikation" oder die "Ethologie universeller künstlerischer Motive". Kunst - so die grundlegende These - ist eine universelle Sprache. Über die verschiedenen Epochen und Kulturen hinweg, ob bei den Eipo in West-Irian oder in der aktuellen japanischen Werbung, ob bei Funden aus der Zeit um 30.000 vor Christus, wie der "Frau von Predmost", oder bei der Malerei eines Juan Miró - überall kann man gleiche oder ähnliche Ausdrucksmittel finden.
"Es gibt ja eine Kunstgeschichte, die alles so weit auseinanderdividiert hat, dass solche Dinge nicht mehr zusammengesehen werden können, wie ein Ingres-Gesicht und eine Baule-Figur, wie auf dem Titelbild unseres Buches", meint Christa Sütterlin. "Was wir machen ist, die Dinge zusammen zu sehen zu lernen, und dazu braucht es eine Theorie."
Wahrnehmung gestalten und interpretieren
Die Deutung von Realität erfolgt bereits in der Perzeption des Menschen, wissen die Autoren. Die Welt wird bereits im impliziten Akt der Wahrnehmung gestaltet und interpretiert, denn Wahrnehmung bedeutet immer auch Auswahl, Vergleich und Verknüpfung von Eindrücken, eine Filterung von Reizen der Außenwelt.
"Praktisch wird ein Informationsandrang auf gewisse Formen und Eigenschaften zugeschnitten, die immer abgeglichen werden mit dem Archiv unserer visuellen Erfahrung", so Sütterlin. "Es wird immer standardisiert. (...) Das ist wie eine Brille unserem Sehen vorgeschaltet, schon wenn wir die Umwelt wahrnehmen."
Ästhetisches Empfinden und Gestalten sind phylogenetisch verankert, sie gehören zu unserer Grundausstattung. Darum ist auch das Verstehenkönnen von Kunst keine Lernleistung.
"Wenn immer wir ein Erinnerungsbild uns machen, etwas wahrnehmen, dann hinterlässt das Gedächtnisspuren, die sind zentralnervös gespeichert", meint Eibl-Eibesfeldt. "Wenn wir wiederholt bestimmte Typen von Bäumen wahrnehmen, bilden wir Schemata aufgrund unserer Erfahrung. Archetypen sagen wir dann."
Versuch der Unterscheidung
Auf bestimmte Signale reagieren alle Menschen gleich, stellen die Autoren fest, auf die Farbe Rot, auf den Reiz der Naturlandschaft, auf das Körperschema des menschlichen Gesichts. Der Grund liegt in unserer genetischen Disposition. Aber ist damit schon hinreichend erklärt, warum beispielsweise Piktogramme sowohl in bronzezeitlichen Felszeichnungen als auch in der modernen Kunst auftauchen und Schemagesichter sowohl bei mikronesischen Masken als auch bei Modigliani-Bildern? Verfolgen die jeweiligen Darstellungen auch die gleiche Intention? Ist die "Weltsprache Kunst" denn eine statische? Beweist die Realität nicht gerade das Gegenteil? Dass Kunst sich entwickelt und Künstler erpicht sind auf Individualität und Unverwechselbarkeit?
"In der Disposition liegt selbst schon begründet, dass sich Kulturen voneinander unterscheiden wollen", meint Sütterlin. "Das gehört in die Ausstattung des homo sapiens: dass er in die Vielfalt tendiert und kulturell versucht, sich zu unterscheiden vom Nachbarn. Darum Stil, Geschichte, Dialekte und so weiter."
Immer wieder Neuanpassungen
Andererseits: Bestimmte künstlerische Darstellungen "verstehen wir alle und immer", sind Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Christa Sütterlin überzeugt. "Die Zeichnungen aus den Höhlen von Chauvet und Lascaux bedürfen", so die Autoren, "ebenso wenig der Übersetzung für anderssprachige Kulturen wie die Tempelskulpturen der Khmer von Angkor Wat für westliche Besucher." Schließlich gehe es da um elementare Dinge, um Kampf und Krieg und Liebe und Glück.
Aber verstehen wir diese Darstellungen denn tatsächlich, oder erkennen wir nur Tiere, Zeichen und Figuren? Kann ein auf der Vorstellung von Archetypen fußendes Konzept von Kunst die künstlerische Innovation erklären, das Entstehen neuer Gattungen, die Grenzüberschreitung, den Tabubruch und den Schock?
"Auf der individuellen Basis, die heute in der Kunst sehr gepflegt wird, wo der Künstler mit seinen ganz persönlichen Gedanken hervortritt, da brauchen Sie immer eine lange Interpretation, um das wirklich zu lesen", so Eibl-Eibesfeldt. "Wir sind natürlich immer wieder von Neuem zu Neuanpassungen herausgefordert."
Fülle spannender Einblicke
In ihrer gewaltigen Tour de force sammeln Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Christa Sütterlin Beispiele für kulturen- und zeitenübergreifende Koinzidenzen, die der These festverwurzelter Archetypen Nahrung geben, ohne zu suggerieren, dass Form- oder Motivähnlichkeit Funktions- oder Bedeutungsgleichheit indiziert.
Sie vermitteln in ihrem Buch eine Fülle spannender Einblicke in ganz unterschiedliche Bereiche. Wir erfahren, dass die kunsthistorisch späte Individualisierung der menschlichen Gesichtsdarstellung nichts mit künstlerischem Unvermögen zu tun hatte; wir erfahren, dass auch Schimpansen individuelle Malstile entwickeln und, gibt man ihnen Pinsel und Papier, an Action-painting erinnernde Bildwerke schaffen; dass Abwehr- und Dominanzverhalten, wie es sich im sogenannten Bart- und Schamweisen bei figürlichen Darstellungen manifestiert, keine "Spezialität" primitiver Völker sind, wie nicht zuletzt der Blick auf das Portal des Wiener Stephansdoms verrät; dass Denkmäler nicht nur Monumente der Macht, sondern auch Brücken der Verständigung sein können; dass sinnliche Fülle ästhetische Befriedigung und Schönheit beruhigende Wirkung bringen kann.
Die "Weltsprache Kunst" liefert eine ebenso anregende wie abwechslungsreiche und lange Lektüre. Ob sie das spezifisch Künstlerische der Kunst und den Wandel der Ästhetik zu fassen bekommt und deutlich machen kann, warum Warhols "Marilyn" ein Kunstwerk und nicht einfach nur ein Bild ist, das steht auf einem anderen Blatt.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Christa Sütterlin, "Weltsprache Kunst. Zur Natur- und Kunstgeschichte bildlicher Kommunikation", Christian Brandstätter Verlag
Link
Brandstätter Verlag - Weltsprache Kunst