ROWOHLT VERLAG
Herbergssuche heute
Schlaflos
Jon Fosse ist einer der meistgespielten Theaterautoren der letzten Jahre. Wie seine Stücke zeichnet auch diese Erzählung die archaische Schlichtheit seiner Stücke aus. In "Schlaflos" paraphrasiert Jon Fosse die christliche Herbergssuche.
5. Oktober 2023, 14:36
Es ist Spätherbst; nass und kalt, als sich das jugendliche Liebespaar Alida und Asle in der norwegischen Küstenstadt Björgvin eine Unterkunft suchen. Sie ist hochschwanger, er hat nicht mehr als einen Geigenkasten, den ihm sein Vater, ein Fischer und Spielmann, hinterlassen hat. Wo immer sie läuten, werden sie mit unverhohlener Verachtung abgewiesen.
Jon Fosses Erzählung beginnt langsam und schwer. In langen Sätzen - der erste geht gleich einmal über eine ganze Seite - führt er den Leser tief in eine Welt der allumfassenden Tragik. Der Vater von Asle "blieb eines Tages auf See", kurz darauf wurde die Mutter krank, und nicht viel später ist sie auch schon tot.
Alida wiederum ist das schwarze Schaf der Familie. Ihre Mutter kann sie nicht leiden und zieht ihr die Schwester vor. Ein wenig liest sich das wie eine Karikatur; so als ob da jemand mit aller Kraft Strindberg oder Ibsen ins dritte Jahrtausende bringen will - und das mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts.
Die Stadt als scheinbare Lösung
Das Drama entwickelt sich linear, unausweichlich, und die Figuren sind holzschnittartig gezeichnet. Als das junge Liebespaar erschöpft im kleinen Bootshaus liegt, kommt plötzlich der böse Kapitalist und erklärt den beiden, sie müssten das Haus bis Abend verlassen haben. Also stiehlt Asle ein Boot und die beiden machen sich in die nächste größere Stadt auf, um dort ihr Glück zu finden.
Fosses Versuch, die Erzählung in der Zeitlosigkeit anzusiedeln, nimmt mitunter absurde Formen an, denn auf das Naheliegende, nämlich schlicht und einfach eine Pension oder Herberge aufzusuchen, kommen die beiden Protagonisten erst nach langem Hin und Her. Und - weil diese schlichte Lösung die ganze Geschichte zum Einsturz bringen würde - sie können dort nicht bleiben, weil der Besitzer Alida seltsam ansieht. Dann lieber wieder hinaus in den Regen und die Kälte.
Viel Symbolik
Seit der Jahrtausendwende gehört Jon Fosse zu den meistgespielten Dramatikern der Welt. Wohnhaft im idyllischen Bergen, versorgt er die Theater mit Stücken, die sich durch archaische Schlichtheit und sprachlichen Reduktionismus auszeichnen. Auch in Fosses Prosa findet man diese Einfachheit. Überhaupt hat man das Gefühl, dass es sich bei "Schlaflos" mehr um einen Theatertext handelt als um eine Erzählung. Die Sprache ist rhythmisiert, sagt oft weniger als sie andeutet. Man sieht die Protagonisten förmlich vor sich, wenn sie eng umschlugen im Bootshaus liegen, oder wenn Asle durch die Stadt irrt, auf der Suche nach einer Hebamme.
Ein "hochartifizielles Kalkül", dem nicht wirklich "Leben entwächst", urteilte der Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung über diesen Text. Und dieser Vorwurf ist nicht ganz von der Hand zu weisen, denn die großzügig gesetzten 78 Seiten drohen vor lauter Symbolik schier zu explodieren. Da ist einmal die schon erwähnte christliche Herbergssuche, deren Symbolik heute nicht mehr passen will, denn dass eine jugendliche Schwangere überall ausgestoßen wird, dass man ihr wegen dieser Schande die Tür weist, das wirkt in einem der reichsten westlichen Länder doch etwas gewollt. Diese Antiquiertheit zeigt sich auch in den Jobs, die die beiden haben oder hatten: Sie ist Dienstmagd, er Spielmann.
Dem Schicksal entkommen
Fosse zeigt eine Welt der sozialen Unverrückbarkeit. Aufstieg ist unmöglich, die Gegenwart ein einziger Überlebenskampf. Der Text ist mehr ein Märchen, eine negative Utopie, in der der Einzelne auf sich selbst gestellt ist und ihm die Gesellschaft nur noch als drohender Gestus gegenüber tritt. Hier wird eine Zeit evoziert, die wir in Europa längst hinter uns gelassen haben, die aber als Drohung und kollektive Angst nach wie vor weiterbesteht.
In so einem Umfeld bekommt die Eigeninitiative einen neuen Stellenwert. Wenn die Umwelt feindlich geworden ist, kann der Held auf das Recht keine Rücksicht mehr nehmen und sein Gesetzesbruch wird zur Notwehr. Asle stiehlt ein Boot, Alida bestiehlt ihre Mutter, mehr oder weniger gewaltsam verschaffen sie sich einen Platz zum Schlafen.
Dem Schicksal, das schwer und ohne Aussicht auf Erlösung auf einem lastet, kann man nur durch Tricks und Gewalt entkommen. Fosse bietet keine Lösungen an; er erzählt die Geschichte nicht zu Ende. Der Text endet damit, dass das Kind der beiden geboren wird. "Jetzt sind nur noch wir da", sagt Alida, und das klingt im ersten Moment nach Befreiung, aber der Leser weiß, dass jede Form von Happy End immer nur Schein ist: Rein und unschuldig mag die Liebe zwischen Alida und Asle gewesen sein, als sie sich zum ersten Mal auf einem Dorffest gesehen haben, aber ab dem Moment, als sie sich für einander entschieden und beschlossen haben, der Logik der Provinz, die jeden auf seinem angestammten Platz festnagelt, zu entfliehen, ist es um die Unschuld ein für allemal geschehen.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 24. Oktober 2008, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 26. Oktober 2008, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Jon Fosse, "Schlaflos", aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag